Als Mark und Tom zu später Stunde auftauchten, waren beide schon längst beschwipst und forderten die Freunde kichernd auf, sich an den Tisch zu setzen, um weitere Geschichten auszutauschen.
Es wurde wie erwartet ein lustiger Abend, doch als Sarah zur Uhr schaute, erschrak sie, weil es schon nach Mitternacht und morgen, eigentlich heute, ein ganz normaler Arbeitstag für alle war. Sie gab den Freunden zu verstehen, dass es Zeit für den Aufbruch war, und so tranken sie ihre Getränke aus und bezahlten ihre Rechnungen.
Tom, der auf Alkohol verzichtet hatte, spazierte zu seinem Wagen, einem kleinen roten Mini, und forderte die drei zum Einsteigen auf, um sie sicher zuhause abzuliefern. Jessica nahm dankend und mit übermüdeten Augen das Angebot an und ließ sich förmlich auf den Beifahrerplatz plumpsen.
„Danke für das Angebot, aber ich laufe nach Hause. Sind doch nur fünf Minuten und ich glaube, die frische Luft tut mir im Moment wirklich gut“, winkte Sarah ab.
Bevor Tom sein Veto einlegen konnte, schritt Mark auf Sarah zu und legte ihr den Arm um die Schulter.
„Gute Idee. Ich bring dich nach Hause. Kein Problem, mir wird die frische Luft auch gut tun. Brauche morgen eh einen klaren Kopf.“
Mark zog Sarah noch näher zu sich heran, weil er spürte, dass der Alkohol ihr ziemlich zugesetzt hatte und sie leicht wankte.
„Alles klar, ihr beiden. Bis demnächst“, verabschiedete sich Tom, streckte den rechten Daumen nach oben und stieg zu Jessica ins Auto. Sarah und Mark schauten dem Auto nach, das sich langsam auf der verschneiten Straße entfernte.
Mark, der immer noch den Arm fest um Sarahs Schulter hielt, schob mit der freien Hand seinen Mantelkragen hoch und schlug den Weg zu Sarahs Haus ein. Dankbar stützte Sarah ihren Kopf an seine Schulter, vergrub ihre Hände tief in die Manteltaschen und passte sich seinem Schritt an. Keiner von beiden sprach ein Wort und gemächlich schritten sie durch die stille, weiße Nacht. Ringsherum schlief die Stadt. Bis auf einzelne, beleuchtete Fenster und das Licht der Straßenlampen, war es dunkel. Der Mond und kleine funkelnde Sterne waren am Himmel zu sehen. Sarah blickte hinauf zu den Sternen und versuchte, Sternenbilder zu erkennen, wenigstens den großen Wagen. Doch die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie hatte eindeutig zu viel getrunken, aber im Moment war das unwichtig. Der Abend war wunderbar und sie hatten sehr viel gelacht. Keinen einzigen Moment dachte sie an Daniel. Sie spürte eine innere Ruhe und genoss das Gefühl der Zufriedenheit.
Als sie schließlich an der Eingangstür zu ihrem Haus ankamen, nahm Mark seinen Arm von ihrer Schulter und stellte sich so dicht vor Sarah, dass kein Blatt mehr dazwischen gepasst hätte. Er schaute in ihr attraktives Gesicht und beugte sich zögernd zu ihr hinunter. Sarah hob den Kopf, um ihn ansehen zu können, spürte seinen verlangenden Blick und sah seinen schönen Mund auf ihren zukommen. Still stand sie vor Mark und schloss die Augen, um ihn gewähren zu lassen.
Erst berührten sich ihre Lippen ganz zart und Mark schloss langsam seine warmen Hände um ihr Gesicht und zog sie noch näher heran. Dann wurde sein Kuss fordernder, er schob seine Zunge zärtlich zwischen ihre Lippen und erkundete ihren Mund mit einer Sinnlichkeit, die Sarah so nie erwartet hätte. Es war ein angenehmes Gefühl, auf diese Weise von ihm geküsst zu werden. Sie spürte seine Leidenschaft, und seine Hände wanderten von ihrem Gesicht über ihre Schultern, hinunter zu ihrem Hinterteil. Er presste sie weiter an sich und Sarah spürte seine Erregung durch die dicken Mäntel. Er reagierte genau wie Daniel auf ihren Liebkosungen.
In diesem Augenblick schossen ihr Bilder von Daniel durch den Kopf, wie er sie verlangend geküsst und sie ihn auf intime Weise berührt hatte. ‚Oh Mann, was tue ich hier?‘
Mark war so vertieft, dass er nicht bemerkte, wie Sarah sich versteifte. Sie öffnete ihre Lider, nahm ihre Hände aus den Taschen und drückte sie behutsam gegen seine Brust, dass er langsam von ihr abließ und ihr tief in die Augen schauen konnte. Sarah sah das Feuer darin lodern. „Mark“, hauchte sie zu ihm auf, doch mehr brachte sie nicht über die Lippen. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihren Körper.
„Sarah, ich begehre dich seit dem Tag, als ich dich das erste Mal traf. Ich habe mich in dich verliebt.“
Da waren die Worte ausgesprochen, vor denen sich Sarah schon seit langem fürchtete. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. Mark war sympathisch und dieser Kuss zeigte ihr seine tiefen Gefühle, die er für sie empfand. Deshalb wollte sie ihm nicht vor den Kopf stoßen.
„Mark, ich weiß, aber ich kann nicht. Bitte bedränge mich nicht.“
Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten. In ihr herrschte ein wildes Durcheinander wie in einem Vulkan, in dem das Magma brodelte und kurz davor war, emporzustoßen und auszubrechen. Sie mochte Mark sehr, konnte ihm aber nicht das geben, was er verdiente, obwohl sie wusste, dass er sie aufrichtig mochte und ihr alles geben würde, was sie brauchte. Allerdings spürte sie seit drei Tagen diese ungeahnten Gefühle, die Daniel in ihr hervorrief, von deren Existenz sie bisher nicht wusste, dass es sie gab, und Küsse, die intensiver und heißer waren, als diese hier. Daniel war es, der ihre Leidenschaft aus tiefer Verborgenheit ins Licht geführt hatte, sie mit sich in unbekannte Stratosphären zog.
Über ihre Wange lief eine Träne und Mark wischte sie behutsam weg. Auch er war hin und her gerissen, wollte aber Sarah nicht bedrängen, ihr einfach Zeit geben. Seine Geduld schien unendlich.
„Geh schlafen, Sarah. Gute Nacht und träume süß.“
Mit einem unsicheren Lächeln beugte er sich erneut über sie und hauchte ihr einen zarten Kuss auf ihre blauen, leicht bebenden Lippen. Abermals strich er ihr zärtlich mit dem Daumen über die Wange, an der eben noch die Träne hinunter gekullert war, und wartete darauf, dass sie im Haus verschwand.
Sarah zog ihren Schlüssel aus der Manteltasche und drehte ihm den Rücken zu, um die Haustür zu öffnen. Sie spürte seinen brennenden Blick auf ihrem Rücken und schloss mit zitternder Hand die Tür auf. Ohne sich noch einmal umzuschauen, betrat sie das Haus und ließ leise die Tür ins Schloss fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf und ihr war elend zumute. Was war nur in sie gefahren? Sie spielte mit den Gefühlen anderer und hatte Angst, Mark wehzutun. Gleichzeitig wusste sie, dass auch sie verletzt werden würde, wenn sie ihren Empfindungen nachgab und sich auf Daniel einließ.
Sarah lehnte ihren Kopf an die Haustür und ließ endlich ihren Tränen freien Lauf. Sie musste sich schützen und sich deshalb dazu zwingen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, und durfte sich keinesfalls auf Daniel einlassen. Er würde sie verletzen und tief in ihrem Innern eine Mauer einreißen und dabei das zerstören, was sie seit ihrem Umzug so sicher verwahrt hatte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, als ihre Tränen allmählich versiegt waren, schob sie sich mit letzter Kraft von der Tür in Richtung Treppe zu ihrer kleinen Dachwohnung.
Die nächsten Tage verliefen für Sarah wie im Fluge. Im Laden gab es jede Menge zu tun und sie war dankbar, Frau Leitner als Unterstützung zu haben. Ohne Mühe machte sie sich mit den Gepflogenheiten vertraut. Es machte Spaß, mit der älteren Frau zusammenzuarbeiten, weil sie ebenso freundlich zu den Kunden war wie zu ihr und für Abwechslung sorgte.
Richard brachte sie jeden Tag mit seinem weißen Mercedes für zwei bis drei Stunden und holte sie zu der vereinbarten wieder Zeit ab.
Sarah war froh, dass Daniel in München zu tun hatte, so konnte sie ihm und ihren eigenen, widersprüchlichen Gefühlen aus dem Weg gehen.
Hatten die beiden Damen eine kleine Verschnaufpause, setzten sie sich gemeinsam an den kleinen Tisch. Oft tranken sie Tee oder plauderten über die Kunden und waren bemüht, stets deren Anliegen, gleich worum es sich handelte, zu erfüllen. Manchmal mussten sie auch herzhaft über die ausgefallenen Wünsche mancher Kunden lachen. So suchte heute beispielsweise ein älterer Herr nach einem ‚Fachbuch‘ über Sex im Alter. Jedoch sprach er dabei nicht Frau Leitner an, sondern suchte Sarahs Hilfe. Nach längerer Suche im Internet wurden sie fündig und bestellten das Buch für den kommenden Tag.
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