„Daniel lässt dich schön grüßen und ausrichten, dass er es sehr bedauert, nicht hier sein zu können. Aber spätestens am Samstag zu unserer Einweihungsfeier wird er dich ja wieder sehen. Er setzt alles daran, pünktlich zu Hause zu sein.“
Sarahs Gesicht wurde knallrot, denn Richard tat gerade so, als wären sie bereits mehr als vertraut. Scheu entzog sie ihm ihre Hand.
„Hallo Richard. Deine Großmutter und ich haben uns prächtig verstanden. Ich kann es kaum erwarten, sie morgen wieder hier bei mir zu haben.“ Aufrichtig sah sie zu der älteren Dame.
„Sie kommen am Samstag auch zu dieser Feier? Davon hat mir noch niemand erzählt. Das ist ja wunderbar“, freute sich Frau Leitner und klatschte in die Hände.
Sarah wollte schon einwenden, dass es noch gar nicht sicher war, aber man ließ sie nicht zu Wort kommen. Versonnen beobachtete sie Großmutter und Enkel, wie herzlich sie miteinander umgingen. Traurigkeit überfiel sie, da sie erneut an Marianne dachte. Auch sie hatten ein wunderbares Verhältnis gehabt. Daniel und Richard konnten sich glücklich schätzen, ihre Großmutter noch zu haben. Es war ein Geschenk, das sie mit Sicherheit zu würdigen wussten.
Sarah ging zur Garderobe und holte den warmen Mantel für Frau Leitner. Richard folgte ihr unaufgefordert. Er nahm ihn ihr sofort aus der Hand, um ihn seiner Großmutter überzuziehen, während er in kurzen Sätzen von seinem Arbeitstag in der Bank berichtete. Schließlich wandte er sich zum Gehen bereit an Sarah.
„Ich wünsche dir noch einen schönen Nachmittag. Bis morgen.“
Ohne ihr die Hand zu reichen, zog er Sarah in die Arme und drückte sie freundschaftlich an seine Brust. Sie spürte sein Herz schlagen und genoss diese angenehme Umarmung. Mit dieser herzlichen Geste fühlte sie sich in dieser Familienrunde geborgen, als würde sie zu ihnen gehören, und hätte Richard am liebsten nicht losgelassen.
Richard löste sich sanft von ihr und schaute sie mit leicht gekräuselter Stirn an. „Alles okay mit dir?“
„Ja, ja, alles bestens“, gab sie knapp zurück und unterdrückte den Kloß in ihrem Hals. „Dann sehen wir uns also morgen“, wandte Sarah sich an Frau Leitner.
„Bis morgen, meine Liebe.“ Frau Leitner reichte ihr die Hand und verabschiedete sich nun ebenfalls.
Sarah sah den beiden nach, wie sie den Buchladen verließen und kehrte zurück an den kleinen Tisch. Langsam sank sie in ihren Korbsessel. Was war denn auf einmal mit ihr los? Traurigkeit befiel sie und ein Hauch von Enttäuschung, weil statt Daniel Richard hier im Laden aufgetaucht war. Und was hatte Richard gemeint? Daniel bedauere es, sie heute nicht mehr gesehen zu haben! Ihre Gefühle hatten sie nicht getäuscht, er war an ihr interessiert. So ähnlich drückte er es auch in einer seiner SMS aus. War ihm eigentlich klar, wie sehr er ihr Herz mit sich riss?
Doch gab es für sie keine Chance, solange er mit Melanie Hansen liiert war. Anstatt seine Großmutter abzuholen, reiste er mit Melanie nach München. Zwar dienstlich, aber Sarah wollte sich nicht ausmalen, was die beiden nach Dienstschluss noch in München so trieben. Ob sie sich auch ein Hotelzimmer teilten? Rasch verscheuchte sie die unangenehmen Bilder.
Anscheinend hatte Daniel keine Skrupel, auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Jedoch gab es für Sarah keinen Kompromiss, sich mit vergebenen Männern einzulassen. Daniel hatte sich in ihr Herz geschlichen, aber sie würde nicht zulassen, dass er ihr wehtat. Er war vergeben und damit basta. Sie musste sich ihn und ihre Hirngespinste endgültig aus dem Kopf schlagen und aufhören, weiterhin in irgendwelchen Fantasien zu schwelgen. Deshalb benötigte sie dringend Abwechslung. Entschlossen raffte sie sich auf und holte vom Kassentresen ihr Handy, um sich für heute Abend mit Jessica zu verabreden. Ihre Freundin würde für die nötige Zerstreuung sorgen.
Ihr Blick glitt auf das Display und wieder war da eine Nachricht von ihm:
Musste geschäftlich nach München. Freue mich auf Samstag. Daniel
Was sollte das? Warum teilte er ihr mit, was er vorhatte? Er war ihr keinerlei Rechenschaft schuldig.
Sie verbannte die Nachricht in ein Hinterstübchen ihres kleinen Frauenhirns und wählte stattdessen Jessicas Nummer. Nach dem zweiten Läuten war sie bereits am Apparat. Beide vereinbarten, sich nach Ladenschluss beim Italiener um die Ecke zu treffen und Sarah freute sich auf einen lustigen und entspannten Abend mit ihrer Freundin.
Völlig abgekämpft und übermüdet krabbelte Sarah weit nach Mitternacht ins Bett, knipste die Nachttischlampe aus und wollte einfach nur noch schlafen, doch ihre Gedanken ließen es nicht zu. Immer wieder schwirrte ihr ein Name durch den Kopf: Daniel Hochkamp.
Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und versuchte vergebens, ihn aus ihrem Schädel zu verdrängen, deshalb rief sie sich den heutigen Abend mit Jessica ins Gedächtnis.
Pünktlich hatte sie den Laden schließen können und traf rechtzeitig beim Italiener ein. Jessica, vertieft in die Speisekarte, saß an einem der Tische am Fenster. Sarah erblickte sie sofort. Sie drückte dem Kellner, der sie an der Tür in Empfang nahm, ihren Mantel in den Arm und gab ihm ein Zeichen, dass sie bereits erwartet wurde. Leise schlich sie sich zu ihrer Freundin, die ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte, und legte von hinten ihre kalten Hände auf Jessicas Wangen. Diese schrak, mit großen Augen über die Schulter blickend, zusammen, während die Speisekarte in hohem Bogen durch die Luft flog und schließlich neben dem Tisch landete.
„Mann, hast du mich vielleicht erschreckt. Schleichst dich wie eine Raubkatze von hinten an. Ich hätte einen Herzanfall erleiden können“, wetterte sie drauflos und fasste sich ans Herz. Doch der Schock währte nicht lange. Schnell fing sie sich und begrüßte Sarah freudestrahlend.
„Schön, dass du da bist. Setz dich und lass uns gleich bestellen. Ich habe einen Mordshunger.“
Den Oberkörper nach vorne übergebeugt hob sie die Speisekarte auf, lehnte sich bequem auf ihrem Polsterstuhl zurück und wies Sarah auf dem Platz neben sich. „Rutsch ran, Tom und Mark kommen auch noch.“
Ups, enttäuscht, dass sie nicht alleine den Abend verbringen würden, nahm Sarah mit hängenden Schultern neben ihr Platz und griff mit einem Schmollmund nach der Speisekarte, die ihr der hübsche italienische Keller vom Eingang augenzwinkernd reichte. Sie erwiderte seinen anzüglichen Blick mit einem scheuen Lächeln.
„Möchten die Signorinas schon etwas zu trinken bestellen?“, fragte der Kellner und seine braunen Augen durchbohrten Sarah.
Jessica, die sah, wie der Kellner die Freundin anschmachtete, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Wir nehmen eine Flasche Rotwein, trocken, und eine Flasche Wasser ohne Gas.“ Sie gab dem Ober mit einem ernsten Gesichtsausdruck zu verstehen, dass er gehen und die Getränke bringen sollte. Das Lächeln verschwand augenblicklich aus seinem Gesicht, nachdem er Jessicas Bestellung notiert hatte, und drehte sofort ab, um seinen Job zu machen.
„Ich dachte, wir machen mal einen Mädel Abend. Nicht, dass ich etwas gegen Tom und Mark hätte, aber das hatten wir schon lange nicht mehr, nur wir zwei. Manchmal gibt es Dinge, die nicht für Männerohren bestimmt sind.“
Missmutig starrte Sarah in ihre Karte und hoffte, dass Jessica nicht weiter auf ihren Einwand eingehen würde. Doch da hatte sie nicht mit ihrer Freundin gerechnet.
„Ach so? Das wusste ich nicht. Was möchtest du mir denn erzählen, was die Jungs nicht mitkriegen sollen? Gibt es da etwas, wovon ich noch nichts weiß?“ Jessica ließ von ihrer Karte ab und widmete sich voll und ganz ihrer Freundin. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Sarah erwartungsvoll an.
Stöhnend verdrehte Sarah die Augen. Sie hätte es wissen müssen, Jessica konnte eine harte Nuss sein, die sofort spürte, dass was im Busch war, und drängelte meist so lange, bis ihre Neugier befriedigt wurde.
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