Bei ihrer ersten Begegnung fand sie Mark sofort ansprechend. Sarah erinnerte sich an die Zeit zurück, als ihre Großmutter starb. Ihre Freunde waren ihr eine große Stütze in der schweren Zeit. Besonders Mark. In den ersten Wochen nach Mariannes Tod stand er jeden Tag vor ihrer Tür, sobald er fertig mit seiner Arbeit war. Er verzichtete auf freizeitliche Sportaktivitäten, nur um bei ihr zu sein. Am Tag der Beerdigung wich er nicht mehr von Sarahs Seite, blieb sogar über Nacht bei ihr. Er schlief auf dem Sofa und sie in ihrem Bett. Mark half nicht nur bei der Erledigung aller Formalitäten, die eine Beerdigung so mit sich brachte. Jede Träne, die sie weinte, wischte er von ihren Wangen und nahm sie tröstend in seine Arme.
Wochen später, als Sarah den endgültigen Entschluss fasste, hier in Garmisch sesshaft zu werden und den Laden ihrer Großmutter zu übernehmen, halfen die drei Freunde tatkräftig mit, Mariannes Wohnung auszuräumen und zu renovieren. Mark kümmerte sich darum, dass viele Sachen wie Möbel, Lampen oder Geschirr auf einen Antikmarkt landeten und nicht zu Sperrholz verarbeitet oder im Müll entsorgt wurden.
In dieser schweren Zeit war sie ihm und den anderen sehr dankbar für die Unterstützung. Alleine hätte sie es nie geschafft, sich von den Dingen, die ihrer Großmutter gehörten, zu trennen. Mark war auch derjenige, der dafür sorgte, dass Sarah so bald wie möglich einen Mieter für die Wohnung fand. Und so stand eines Tages unerwartet Patrick mit seinem Gepäck im Laden und stellte sich ohne Umschweife als neuer Mieter vor. Bis dahin lebte er in einer WG und wollte endlich ein eigenes Zuhause. Mark kannte ihn schon länger und wusste, dass Patrick ein anständiger und zuverlässiger Kerl war. Sollte Sarah mal Probleme in dem für sie zu großem Haus haben, konnte sie jederzeit mit seiner Hilfe rechnen. Außerdem war es für Mark beruhigend, zu wissen, dass Sarah männlichen Beistand hatte.
Sarah war angetan von Marks Nähe, seiner Fürsorge, seiner Freundschaft. Aber ihr war auch klar, dass dies alles irgendwann nicht mehr für ihn reichen würde. Anfangs glaubte sie, dass er ihr nur eine Stütze sein wollte. Aber bald wurde ihr klar, dass tiefere Gefühle im Spiel waren. Er wollte mehr von ihr, ließ ihr aber alle Zeit der Welt. Sie fühlte sich geschmeichelt bei diesem Gedanken. Doch sein Auftreten am vergangenen Abend im Pub gab ihr zu denken. Er stellte mit einer Selbstverständlichkeit Besitzansprüche, die ihm gar nicht zustanden. Sie musste klare Verhältnisse schaffen, denn sie wollte Mark als Freund nicht verlieren.
Nie hatte Sarah ihm wirklich Anlass zur Hoffnung gegeben, ihm aber auch nicht gezeigt, wo seine Grenzen waren. Trotzdem hatte sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Okay, der ein oder andere Kuss, aber das lag Ewigkeiten zurück. Gestern war Mark verärgert gewesen und sie ahnte, warum. Wahrscheinlich hatte er diese Anziehungskraft zwischen Daniel und ihr gespürt, die förmlich zum Greifen in der Luft lag.
Sie musste Mark gegenüber fair bleiben und endlich mit offenen Karten spielen, und somit verhindern, dass er etwas von ihr erwartete, was sie nicht bereit war zu geben. Ebenso würde sie ihm zu verstehen geben, dass genauso wenig zwischen ihnen sein würde wie zwischen Daniel Hochkamp und ihr.
An der Zwischenstation angelangt sprangen Jessica und Tom aus dem Skilift, nahmen ihre Skiausrüstung und stapften voran. Sarah und Mark folgten schweigend. Hier oben war es einfach wunderbar. Die Berglandschaft, die sich vor ihnen auftat, war atemberaubend schön. Die Luft war klar und rein, keine stinkenden Abgase verpesteten die Atmosphäre und kein Fahrzeuglärm war zu hören. Die Sonne leuchtete am strahlendhellen blauen Himmel und der Schnee schimmerte blendendweiß. Es waren die optimalen Wetterbedingungen. Skibegeisterte Einheimische und Touristen tummelten sich auf den Pisten und sausten bereits die Hänge hinab.
Am Steilhang angekommen, blieben die Vier stehen und schauten in Richtung der vielen Pisten.
„Dir zuliebe fangen wir klein an, also auf geht’s. Schnall dir die Bretter an, wir sind bereit.“ Binnen weniger Sekunden war Tom abfahrbereit.
Sarah tat wie Tom befohlen und stützte sich bei Mark ab. Tom hielt derweil ihre Skistöcke. Als Sarah startklar war, rückte sie ihre Brille zurecht und nahm Tom die Stöcke ab. Bloß nicht stürzen, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Jessica, Tom und Mark waren ebenfalls bereit und einigten sich auf einen einfachen Abhang.
Links und rechts schossen bereits die ersten Skifahrer an ihnen vorbei und Sarah wurde es schlagartig flau im Magen.
„Na los Schneehase, bist du bereit?“ fragte Tom mit einem Lächeln, das beinahe seine Ohren erreichte, in Sarahs Richtung. Er stellte sich vor ihr und ging in Position. Sarah nickte ihm zu und Mark gesellte sich an ihre linke Seite.
„Auf geht’s“, hörte sie Jessica noch rufen und schon war ihre Freundin losgeprescht. Mit ein paar kräftigen Stößen in den Schnee nahm sie die Fahrt auf. Tom setzte sich ebenfalls langsam in Bewegung, immer darauf bedacht, Rücksicht auf Sarah zu nehmen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte Sarah ihm. Neben sich sah sie aus den Augenwinkeln, wie Mark ebenso Schwung aufnahm. Wenn Sarah die Männer so beobachtete, wunderte sie sich einfach nur, dass es bei ihnen so einfach aussah, als wären sie auf Skiern zur Welt gekommen. Etwas wacklig auf den eigenen Beinen ging die Fahrt ins Tal. Zum Glück hatte Tom eine Strecke ausgesucht, die nicht sehr steil war, sodass sich ihre Geschwindigkeit in Grenzen hielt. Durch die Schlängellinien drosselte er noch einmal das Tempo. Sarah sah konzentriert auf Tom und folgte seinen Bewegungen. Sie spürte aber, wie andere Abfahrer mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeirauschten.
Abgelenkt und unkonzentriert übersah sie den kleinen Schnitzer im Schnee und kam plötzlich ins Straucheln, weil ihr Ski sich in dieser Delle verkantete. Doch Mark war sofort zur Stelle, griff nach ihrem Arm und hielt sie, damit sie das Gleichgewicht wieder fand und nicht stürzte.
Nach endlosen Minuten erreichten die drei ohne weitere Zwischenfälle das Tal, wo Jessica sie bereits erwartete. „Na, wie hat es euch gefallen? Unglaublich, oder?“
„Wie soll es schon gewesen sein? Super natürlich! Und ohne Sturz!“ Sarah reckte stolz das Kinn. „Aber in der B-Note werde ich nie eine sechs erhalten.“ Sarah schmunzelte, zufrieden mit ihrer Leistung, und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Nach diesem anstrengenden Teil wollte sie erst einmal ein wenig verschnaufen. Schließlich machte sie das nicht alle Tage. Doch die Freunde ließen ihr kaum mehr als fünf Minuten Zeit zum Durchatmen.
„Auf geht’s!“, rief Tom über die Schulter und sah in das vor Anstrengung gerötete Gesicht Sarahs. „Nicht schlappmachen, der Spaß hat erst begonnen!“
Alle lachten auf, doch Sarah verdrehte die Augen, denn es ging schon wieder zum Skilift.
In derselben Konstellation fuhren sie den Berg hinauf und wiederholten das Ganze noch zweimal.
Wider Erwarten gefiel es Sarah zunehmend mehr, allmählich machte ihr die Sache Spaß. So langsam kam sie in Fahrt, zumindest für ihre Verhältnisse hatte sie es schon relativ gut drauf.
Nicht einmal stürzte sie oder rutsche auf ihrem Po den Abhang hinunter und gab somit den Freunden keinen Grund, sich über ihren Schneehasen lustig zu machen. Dieses Mal würde sie keine blauen Flecke davontragen.
Nach ihrer letzten Runde standen sie am Lifteingang und Jessica schaute auf Tom und Mark.
„Was haltet ihr davon, weiter hoch zufahren, um die schwarze Piste ins Tal zu nehmen?“
„Was?“, platzte es aus Sarah heraus. „Mir genügt die Abfahrt vom Mittelhang.“
Sie sah in die Gesichter ihrer Freunde und ahnte, dass sie Lust auf mehr hatten. Mit schlechtem Gewissen wandte sie schließlich doch ein.
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