Der Weg bis zu Kuppel 1 war nicht weit und so steuerte ich bereits nach zehn Minuten den Hafen an. Cas schwieg die gesamte Zeit. Vielleicht war er beleidigt, weil ich ihm nicht geantwortet hatte.
»Wir sollten ...«, begann ich, als wir das Schiff in der Haltebucht am Steg abgestellt hatten und ausstiegen, kam jedoch nicht weiter.
»Corvin.«
Insgesamt sechs Sicherheitsleute erwarteten uns. Sie standen unmittelbar vor dem Ausgang des Hafens und versperrten uns den Weg.
»Wir sollen dich zu deinem Vater bringen.«
Kurz warf ich einen Blick zurück über die Schulter, doch Cas schüttelte langsam den Kopf. Man musste sich eingestehen, wenn man verloren hatte.
Die Gestalt meines Vaters wirkte trotz allem beeindruckend auf mich. Er trug wie immer seine weiße Kluft, die seinen trainierten Körper einhüllte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Mit seiner beachtlichen Größe von beinahe zwei Metern wirkte er immer, als würde er über den Dingen schweben. Er war schon immer eine Erscheinung für sich gewesen. Und seitdem meine Mutter nicht mehr bei uns war und sich nicht einmal an den guten Tagen ein Lächeln in sein Gesicht schlich, machte er sogar einen noch einschüchternden Eindruck. Das änderte sich auch nicht durch die Tatsache, dass seine Koteletten sich langsam gräulich verfärbten und Sorgenfalten sein Gesicht furchten.
»Ich weiß mir langsam nicht mehr zu helfen. Was soll ich tun, damit du mich nicht ständig in solche Situationen bringst?«, fragte er leise und ließ sich mir gegenüber auf der Couch nieder. Wir befanden uns in unserem Wohntrakt, der geräumig war und dennoch mein ganz persönliches Gefängnis. Die Einrichtung war vollständig in Schwarz und Weiß gehalten. Einzig die Bilder von Mom brachten ein paar Nuancen in die Tristesse. Niemand hatte es wie sie geschafft, die Farben der Leuchtfische so perfekt einzufangen und auf eine Leinwand zu bannen. Sechs dieser Stücke zierten die Wohnzimmerwand und waren wie Erinnerungen an eine Zeit, die nicht mehr zurückkommen würde. Wie ein letzter Gruß meiner Mutter, der es immer gelungen war, Worte in Farbe zu verwandeln.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, beharrte ich stur und versuchte, den Blick meines Vaters zu erwidern.
»Reicht dir das hier nicht? Ist es nicht ausreichend, dass wir so leben dürfen?« Er vollführte eine allumfassende Geste. Unser Apartment war das größte in ganz Atlantis und reichte über eine ganze Etage im höchsten Gebäude von Kuppel 1. Wir besaßen vier Zimmer; ein Büro, das Schlafzimmer meiner Eltern, mein Zimmer und das geräumige Wohn- und Esszimmer. Niemand in der Station beanspruchte so viel Lebensraum für sich. Etwas, worauf ich ohne Umschweife verzichten würde, wenn ich stattdessen ein normales Leben führen dürfte. Doch das sagte ich ihm nicht, denn ich wusste, er würde es ohnehin nicht verstehen. Für ihn war das hier die Erfüllung, für mich ein nicht enden wollender Albtraum.
»Ich habe dich gebeten. Ich habe dir Regeln auferlegt. Ich habe dir gedroht«, zählte er auf, während er mich ernst anblickte. »Was kann ich noch tun, was nicht gegen die Regeln von Atlantis verstößt?« Er hatte eine ruhige Stimme, das war schon immer so gewesen. Mein Vater war kein Mann, der laut werden musste, um zu zeigen, dass er überlegen war.
Er sah mich abwartend an und ich schwieg. So verliefen unsere Gespräche zumeist. Bis mein Vater entweder keine Lust oder keine Zeit mehr hatte, dass ich ihn schweigend ansah und seine Fragen unbeantwortet ließ. Oder knapp und ausweichend reagierte. Es war die beste Taktik, da streiten schon lange keinen Sinn mehr machte.
»Du hast versucht, die Gesundheitsdateien zu manipulieren?«, fragte er, griff nach seinem Tablet und runzelte die Stirn. »Die deiner zukünftigen Frau? Was wolltest du tun?«
Nichts. Ich sagte gar nichts.
Sein blasses Gesicht färbte sich leicht rötlich, die Lippen wurden schmal. »Antworte.« Das Wort klang wie eine Beleidigung, so voller Abscheu spuckte er es aus.
»Ich habe nichts gemacht«, log ich.
Mein Vater sprang auf und kurz fürchtete ich, dass er mir eine verpassen würde, doch stattdessen feuerte er das Tablet vor mir auf den Glastisch.
»Atlantis, Video auf meinem Haus-Tablet abspielen«, forderte er und es klang mehr wie ein Grollen. Sein Gesicht hatte eine ungesunde rote Farbe angenommen.
»Video wird abgespielt.«
Ich beugte mich leicht nach vorn und entdeckte mich selbst. Mich an dem Gesundheitsterminal, irgendwo hinter mir Cas, der sich verunsichert umblickte. Ich war mir hundert Prozent sicher, dass ich die Kamera abgestellt hatte. Das war sogar eines der ersten Dinge gewesen, die ich getan hatte.
Ich lehnte mich mit verschränkten Armen zurück und funkelte meinen Vater gereizt an. »Ich habe keine Ahnung, was das soll.«
Worte, die meinen Vater sichtlich an den Rand der Selbstbeherrschung trieben. Doch das war mir egal. Nein, eigentlich war es das nicht. Es war eine Genugtuung. Die einzige Möglichkeit, nur eine Gefühlsregung bei ihm auszulösen, selbst wenn es Wut war, besser als gar nichts.
»Gestern das Manipulieren der Sicherheitsdienstdateien, letzte Woche der Stromausfall, vor drei Wochen die Ausgabe der Festessen an einem gewöhnlichen Wochentag. Von deinen übrigen Verfehlungen mal vollkommen abgesehen, scheinst du es sehr witzig zu finden, mich an meine Grenzen zu bringen.«
Mit Spaß hatte das wenig zu tun, doch nicht einmal das brachte ich über die Lippen. Die wenigen Momente, in denen ich mir erlaubte das zu tun, wonach mir der Sinn stand, waren wie Freiheit. Etwas, das mir nicht von ihm diktiert wurde. Der Beweis, dass mein Hirn zum Denken da war. Es mochte ihm albern vorkommen, doch für mich waren diese kurzen Momente überlebenswichtig geworden.
Er atmete aus und zitterte dabei leicht. »Ich werde deinen Unterricht in dein Zimmer verlegen lassen. Du verlierst alle Rechte, das Apartment zu verlassen.«
»Eingesperrt bin ich ohnehin schon«, gab ich genervt zurück.
»Außerdem werde ich Cas für eine Woche von seinem Dienst suspendieren.«
Damit hatte er mich kalt erwischt. »Was?«
Zufriedenheit funkelte in seinen Augen. »Du hast mich schon verstanden. Der einzige Moment, an dem du dein Apartment verlassen darfst, ist während der offiziellen Veranstaltungen, in Begleitung von mir oder Elizabeth. Nur, damit du nicht denkst, dass du aus allem jetzt fein raus bist.«
Ich starrte ihn an. »Du kannst Cas nicht dafür bestrafen, dass ich Mist baue.«
»Das mache ich auch nicht«, erwiderte er kühl, während sein Tablet mit einem Signalton eine ankommende Nachricht ankündete. »Ich bestrafe dich.«
Anonym1: Habe die Daten erhalten, bereit für den nächsten Schritt.
Anonym2: Verstanden. Autorisiere, dass Kontakt hergestellt wird.
Anonym1: Sende Daten nach Kontaktaufnahme und erwarte weitere Anweisungen.
Anonym2: Verstanden. Wir wünschen viel Erfolg beim erneuten Aufbau.
»Wofür werde ich eigentlich ausgezeichnet?«
Mit finsterem Blick traten mir die beiden schwarz gekleideten Männer in den Weg, nachdem ich den Schleusenbereich des Hafens verlassen und den großen Steg betreten hatte. Beide trugen gelbe Armbänder und sahen aus, als absolvierten sie mehr Sporteinheiten als Aaron, Thera und ich zusammengenommen. Fehlte nur noch die obligatorische Sonnenbrille wie in den Filmen aus dem letzten Jahrtausend, wo es als cool galt, seine Augen mittels der dunklen Gläser zu verbergen. Aber eine solche zu tragen wäre auf einer Unterwasserstation wirklich vollkommen unsinnig gewesen. »Valea, Bewohnerin 27867«, beeilte ich mich, zu sagen. »Ich habe eine Einladung zu den Festlichkeiten in Kuppel 1.«
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