»Jetzt genau drei Jahre und einen Monat. Die Zeit vergeht. Er wäre in diesem Jahr neunundachtzig geworden.« Sie griff zu ihrer Handtasche und zog aus der Seite ein Taschentuch hervor, in das sie kurz schnäuzte. Onkel Toni, davon leicht berührt, sah zu, wie der Ober den Nachbartisch polierte und die Stühle wieder ordentlich rückte. Dann fuhr sie fort: »Jetzt ist meine Mutter an Krebs erkrankt. Sie ist in Behandlung, aber sie verträgt die Chemo nicht. Meine Schwester hat mit dem Arzt gesprochen. Er glaubt, sie wird es nicht mehr lange machen. Vielleicht wird sie das Weihnachtsfest nicht mehr erleben.«
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann…«, bot Antonio seine Unterstützung an, aber im Moment war diese nicht von Nöten. Alles was für die Mutter wichtig war, bezahlte die Versicherung. Finanziell kamen sie auch gut klar, wie der Onkel wusste. Die eine Schwester war bei der Hafenpolizei in Bandol, die andere in der Verwaltung der Stadt und beide waren gut verheiratet. Der Bruder war ein höherer Beamter beim Zoll in Marseille. Alle beide hatten ein Eigenheim an dem Südhang, der sich hinter der Stadt herzog, mit wunderbarem Blick auf die Cote d'Azur.
Als die Mutter sich kurz entschuldigte und Onkel Antonio bezahlte, wandte er sich vertraulich an seinen Neffen:
»Was hältst du davon, wenn ich dich in dieser Woche einmal besuche. Vielleicht können wir deine Mutter doch noch umstimmen?«
Der Junge war nicht abgeneigt. »Ich würde gerne mit dir zusammenarbeiten, Onkel Toni. Ich mag dich, das weißt du.«
»Ich mag dich auch.«
Es war gegen Abend, als Onkel Toni mit seinem nagelneuen Maserati GranCabrio vorgefahren kam. Giulio kam gerade vom Einkaufen, was er jetzt öfter tat, seit er so viel Freizeit hatte. Diesen unverkennbar röhrenden Motor hätte er auch im Schlaf erkannt. Er war jedoch sehr überrascht, als er seinen Onkel hinterm Steuer erkannte. Statt des üblichen Hutes trug er eine Baseballmütze mit dem Dreizack. Außerdem trug er einen passenden Schal mit eben diesem Logo.
»Na, was hältst du von dem Maschinchen? Gefällt es dir? Super? Es soll 270 Sachen machen. Ich würde gerne mal nach Deutschland fahren, um es auszuprobieren. Kommst du mit?«
Sie lachten.
Das Dach war geöffnet und der Junge bestaunte die noble Einrichtung des roten Cabrios mit den schwarzen Felgen. Das helle Leder fühlte sich edel an. Er streichelte über das Lenkrad. »Mit Schaltwippen? Nice! Griffig!«, stellte er fest. Er lief um den Wagen herum. Er erkannte sofort die Qualität. »Neues Modell! Wunderbar!«
»Wenn du mich die Einkäufe nach oben tragen lässt, könntest du eine Runde mit dem Auto fahren. Ganz nebenbei könntest du mir sogar einen Gefallen tun. Hole meinen Butler vom Flughafen ab. Er landet gegen halb zehn. Du hast Zeit genug. Kennst du Oscar schon? Er ist bei mir seit April, seit Giovanni seinen verdienten Ruhestand genießt.«
Giulio kannte den neuen Mann, aber im Moment konnte er nicht antworten. Er war sprachlos. Natürlich war der Tausch Gemüse gegen Autoschlüssel schnell beschlossen. Er versprach, vorsichtig zu fahren und Oscar gesund zu seiner Villa zu bringen.
»Hier Junge, nimm die Mütze. Ich habe sie von der Firma geschenkt bekommen. Du darfst sie behalten.«
Der Onkel schaute zu, wie sich sein Neffe mit dem Wagen vertraut machte und dann vorsichtig wendete in Richtung Containerhafen. Als er außer Sichtweite war, klopfte er bei seiner Schwägerin an die Tür und trat ein. Im Sommer stand die Tür immer offen. Maria hantierte in der Küche und bereitete einen Pizzateig. Wegen der mehligen Hände konnte sie ihn nur mit einem flüchtigen Küsschen begrüßen. Dabei hielt sie die Hände weit auseinander. Antonio aber nahm sie in seine Arme und drückte sie.
»Das Essen steht fertig. Bitte setz dich. Der Junge kommt auch jeden Moment. Er ist zum Einkaufen. Er müsste eigentlich schon zurück sein. Na, vielleicht hat er noch jemanden getroffen.«
»Der Junge ist unterwegs zum Flughafen. Ich habe die Einkäufe hier in der Tüte. Er wird eine Weile beschäftigt sein, weil der Flug, mit dem Oscar aus Zürich kommt, mindestens eine halbe Stunde Verspätung hat. Ich habe mit Oscar telefoniert, der auf das Boarding wartet. Sie haben dort ein schweres Gewitter und Hagel. Nichts geht dort.«
»Du hast ihn einfach weggeschickt? Er hätte vorher etwas essen sollen.«
»Meine liebe Maria, mache dir keine unnötigen Gedanken. Der Junge ist erwachsen. Wenn er Hunger hat, wird er schon etwas zu essen finden. Ich habe ihm meinen neuen Wagen anvertraut. Was ist dabei? Er freut sich, dass er fahren darf. Ist eben ein Junge. Ich weiß, dass er damit zurecht kommt. Er ist ja auch schon früher mit meinen Autos unterwegs gewesen. Mache dir bitte keine Sorgen.«
Beim Abendessen vermieden sie es, über die Zukunft des Jungen zu reden. Eigentlich war es Maria, die darüber nicht sprechen wollte. Sie erzählte die neuesten Nachrichten aus Bondol.
Sie lag in seinen Armen. »Du, Antonio, … hast du es am Sonntag ernst gemeint mit der Anstellung in deiner Firma?«
»Natürlich. Was spricht dagegen? Er ist tüchtig und vertrauenswürdig, er gehört zur Familie. Solche Leute brauche ich.«
Sie löste sich von ihm und zog sich an. »Ich finde, er ist einer Aufgabe in deinem Betrieb nicht gewachsen. Er ist zu weich. Kannst du ihm nicht zu einer Anstellung in einer anderen Firma verhelfen. Du hast doch Beziehungen zu allen möglichen Leuten. Vielleicht könnte er bei der Stadtverwaltung anfangen.«
»Maria, der Junge ist zu tüchtig für die Stadtverwaltung. Er kann mehr.«
»Bitte!«
Antonio wog den Kopf hin und her.
»Natürlich ist da etwas zu organisieren … für die ersten Jahre jedenfalls. Aber je früher er bei mir einsteigt, desto eher erfüllt er die Voraussetzungen, in der Firma aufzusteigen. Er soll es weit bringen. Ich habe Großes mit ihm vor. Er muss nur wollen.«
»Toni, ich … habe Angst … ich habe Angst, ihn auch zu verlieren«. Sie stand da und man sah ihr die Furcht an. »Die Geschäfte, die du machst, sind gefährlich.«
»Du denkst an Mario?«
Don Antonio loggte sich ein. Unter »Entwürfe« fand er eine neue Nachricht. Diese Art der Kommunikation hielt er für die sicherste, Informationen auszutauschen, ohne dass eine Nachricht verschickt werden musste. So war keine E-Mail nachzuverfolgen oder abzufangen. Drei Leute hatten Zugang zu diesem Konto, er selbst, der Bürgermeister Adolfo Sartori und der Polizeichef Fran-cesco Manola. Wenn einer von ihnen etwas mitzuteilen hatte, was für die Öffentlichkeit nicht so von Bedeutung war oder sein sollte, schrieb derjenige eine Mail und speicherte diese als Entwurf. Man konnte ihn an allen Orten der Welt lesen.
»Wichtig! Nachricht aus Rom: Großfahndung der Policia die Stato in der gesamten Lombardei in Vorbereitung. Schwerpunkt Raum Turin, Autoschieber. DIA ist eingeschaltet. Fahndung nach Radomir Milanovic, gebürtig in Belgrad, gemeldet in Mailand. Kurzfristig. Ich halte dich auf dem Laufenden. Francesco.«
Kurzfristig. DIA. Das waren zwei Wörter, die konnte er gar nicht vertragen. Die Direzione Investigativa Antimafia konnte er hier überhaupt nicht leiden. Die brachte mit ihren dummen Fragen nur Unruhe in die Gesellschaft.
Er las die nächste Nachricht: »Die Firma ADN hat ihre Offerte abgegeben. Du findest sie im Anhang. Das Angebot geht heute in einer Woche in den Bau-Ausschuss. Gruß Adolfo.«
Jetzt kam alles auf einmal. Wer war dieser Milanovic, der ihm jetzt das Leben schwer machte? Es durfte nicht sein, dass wegen eines Serben der ganze Norden in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er brauchte Klarheit. Er griff zum Telefon. Den Kerl würde er schon ans Messer liefern. Man müsste ihn nur erst haben.
»Luca? Ich brauche dich hier. Avanti!«
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