»Hallo Onkel Toni!«, rief er begeistert und sprang die Stufen hinunter. Beinahe hätte er in seiner Begeisterung seinen Onkel umgerannt. Der stand schon im Treppenhaus. Onkel Antonio hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Ich habe alles gewusst, sie haben mich mit ihren Fragen gelöchert, aber ich konnte alles ordentlich beantworten. Insgesamt habe ich als einer der besten abgeschnitten«, antwortete er ohne auf die Frage des Onkels zu warten. »Das hat mir der Vorsitzende der Kommission selbst zugeflüstert, als er mir das Zeugnis überreicht hat.«
»Gratuliere, mein Junge. Ich wusste, dass Du so tüchtig bist wie dein Vater. Es hätte ihn glücklich gemacht. Schade, dass er das nicht mehr miterleben durfte. Du bist ein guter Sohn geworden!« Der Onkel umarmte seinen Neffen mit Stolz im Gesicht. »Ist deine Mutter zuhause? Ich möchte auch ihr gratulieren.«
»Sie ist oben.«
»Hallo Antonio, was sagst du zu dem Jungen?«, strahlte die Mutter ihren Schwager an.
»Ich gratuliere euch beiden von ganzem Herzen.«
Er legte den Hut offen auf den Tisch und warf die Sonnenbrille hinein, ohne sie vorher zusammenzuklappen. Seiner Ledertasche, die er wie gewöhnlich bei sich trug, entnahm er eine in Styropor kühl gehaltene Flasche Prosecco, stellte sie auf den Tisch und lockerte die Agraffe. Ehe er die Flasche ganz geöffnet hatte, standen auch schon drei Kelche auf dem Tisch, die bis oben gefüllt wurden. Er strich seinem Neffen, der nun schon erwachsen war, über die Haare und ruckelte freundlich sein Kinn hin und her.
»Wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Wann habe ich dich zur Taufe getragen? Gestern? Geschrien hat der Junge damals wie am Spieß«, wandte er sich an seine Schwägerin und drückte sie an seine Brust. »Jetzt ist er mir über den Kopf gewachsen. So schnell vergeht die Zeit!«
»Ich glaube, wir werden älter. Das sieht man am ehesten an den Kindern.« Sie streichelte ihrem Schwager zärtlich die Wange und den Haaransatz, der inzwischen mehr von seiner Stirn freigab. Haare hatte er allerdings noch genug. Von Glatze war keine Spur zu ahnen. Allerdings waren sie grau.
Nachdem er sich über einzelne Fächer hatte informieren lassen und das Zeugnis sowie die Urkunde ausgiebig bewundert hatte, kam er zur Sache:
»Salute!« Onkel Toni schenkte jedem noch einmal nach. »Auf die Zukunft … auf eine erfolgreiche Zukunft! Ich wünsche dir alles Glück der Erde, mein Junge. Halte dich tapfer und triff die richtigen Entscheidungen. Dann wirst du ein erfolgreicher Mann.«
Sie saßen alle drei um den Tisch herum, der immer noch der gleiche war, an dem die Mutter damals so fürchterlich um den Vater getrauert hatte. Giulio hoffte, dass sie den Tod ihres Mannes verkraftet hätte. Es hatte jedenfalls den Anschein, auch wenn eine kleine Träne in ihren Augenwinkeln zu glitzern schien.
»Und? Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, mein Junge, was du nun tun möchtest?«, fragte Onkel Antonio.
»Leider kann mich die Kanzlei Dibiati, in der ich meine Praktika absolviert habe, nicht einstellen. Kein Bedarf. Schade, ich wäre gerne bei ihnen geblieben. Sie waren alle sehr nett.«
»Ich denke, wir werden schon eine gescheite Anstellung für dich finden«, versprach der Onkel. »Möchtest Du unbedingt in einer Kanzlei arbeiten und Prozesse führen und dich mit anderen Leuten streiten …? Oder … vielleicht in der Industrie Verträge ausarbeiten? … Du hast nun viele Möglichkeiten. Mit diesem Abschluss steht dir die Welt offen.«
Sie plauderten von alten Zeiten, von Onkel Tonis Frau, Giulios Tante Angela, die leider keine Kinder bekommen konnte und schon mit 36 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Dann vom Dorf, wie sie den Stadtteil Albaro nannten, und dem neuesten Tratsch, den seine Mutter vom Friseur mitgebracht hatte. Man redete über Politik, den Euro und die EZB und machte sich Gedanken über die Zukunft des Jungen und schmiedete Pläne. Es waren mehr als zwei Stunden vergangen, als Onkel Antonio sich auf den Weg machen musste. Er klemmte sich die Tasche unter den Arm, nahm seinen Hut in die eine, die Sonnenbrille in die andere Hand und ging auf Maria zu, um sich zu verabschieden. Er küsste sie auf beide Wangen.
»Wenn du einen Rat brauchst oder Hilfe, … du weißt …« Giulio strich er übers Haar, klopfte ihm auf die Schulter und spornte ihn an: »Nur weiter so, Junge. Dann wird aus dir einmal ein wohlhabender Mann.»
Maria blickte ihren Schwager skeptisch an.
Am Sonntag nach der Messe trafen sie sich vor dem Hauptportal der Kirche.
»Hallo Onkel Antonio«, freute sich Giulio seinen Paten zu sehen.
»Hallo Ihr zwei, ich wünsche einen schönen Sonntag. Wie geht’s? Darf ich euch zu einem Kaffee einladen? Es würde mich freuen.«
Sie bestellten drei eiskalte Kaffee mit Sahne. Giulio bat noch um einen Eisbecher. Der Ober brachte etwas Gebäck dazu. Es war schon recht warm und Onkel Antonio legte sein Jackett über die Stuhllehne. Nach kurzem Einführungsplausch kam der Onkel zur Sache:
»Was macht die Berufswahl? Hast du schon etwas angepackt?«
Giulio hatte schon einiges unternommen. Ein Vorstellungsgespräch hatte er schon absolviert, zwei standen noch aus. Leider keines bei einem Anwalt. Der aktuellen Situation geschuldet, in der neue Steuergesetze bevorstanden, hatte niemand Lust, das Personal aufzustocken. Im Gegenteil. Alle Freiberufler, ob Anwälte, Makler oder Ärzte mit eigener Praxis würden in Zukunft stärker belastet. Durch neue Vorschriften bei der Dokumentation und im Zahlungsverkehr stieg einerseits die Bürokratie an und dadurch die Kosten und andererseits würde es nicht mehr so leicht möglich sein, Gelder am Fiskus vorbei zu schleusen. Das war er schon als Praktikant gewahr geworden. Er konnte nicht so recht verstehen, warum so viele Leute ihre Steuern nicht bezahlen wollten. Die Leute, die hunderttausend Euro verdienten, hatten doch Geld genug, die Steuern zu bezahlen. So hatte er sich dazu durchgerungen, auch in der Industrie nach Möglichkeiten zu suchen. Eine Hotelkette mit angeschlossenen Reisebüros wollte ihn wohl anstellen, aber die Bedingungen hatten so gar nicht seinen Vorstellungen entsprochen. Er solle in San Remo ein »Büro leiten«. In Wirklichkeit war er dort der einzige Mitarbeiter, der Leute an die Hotels vermitteln sollte. Er hatte auch zwei Bewerbungen an große Firmen in Mailand und in Turin geschickt, die allerdings noch nicht geantwortet hatten. Ging ja auch nicht, wie er wohl einsah. Die Zeit war ja bisher zu kurz. Er rechnete mit drei bis vier Wochen.
»Was hältst du davon, wenn ich dir ein Angebot mache? Es wird bestimmt nicht kleinlich ausfallen. Du weißt, dass ich immer auf der Suche nach guten und vertrauenswürdigen Mitarbeitern bin.«
Noch ehe der Junge antworten konnte, wehrte die Mutter rigoros ab.
»Kommt nicht in Frage! Auf gar keinen Fall! In dem Geschäft deines Onkels hast du nichts zu suchen. Das verhindere die Mutter Gottes!«
Giulio war verdutzt. So kannte er seine Mutter nicht. Sie war sonst immer kulant und auf Ausgleich bedacht. So undiplomatisch hatte er sie noch nie erlebt. Auch der Onkel war recht verwundert.
»Aber Mama!?«
»Nein!«
»Warum?«
»Nein!«
»Sieh mal Maria: die Zeiten sind nicht so, dass man sich die Jobs aussuchen kann wie früher. Selbst hier in Ligurien ist das Angebot …«
»Nein! Basta!«
Die Stimmung war leicht gedrückt, man sah sich nach den Leuten um, die das Café passierten und schwieg. Giulio löffelte stumm den Rest von seinem Eisbecher Napoli und gab die Waffel an seine Mutter weiter, weil sie diese so gerne hatte. Nach einer Weile brachte Onkel Antonio das Gespräch wieder in Gang.
»Wie geht es deiner Familie in Frankreich?«, fragte er Maria möglichst unverfänglich. »Wie lange ist es her mit deinem Vater? Drei Jahre?«
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