„Für mich sieht alles nach ‘nem gelben Lkw aus.“
Meier-Wirsing stutzte, doch nur für einen Moment.
„Aah okay, und das sagt Ihnen Ihre unendliche Weisheit?“ Seine Stimme troff vor Ironie.
„Das nicht gerade“, antwortete Lütkehennerich gemütlich, „aber es steht ja alles deutlich auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können. Genau wo Kollege Schulte steht, haben wir den seltenen Glücksfall einer Schuhabriebspur, die uns den Kollisionspunkt zuverlässig anzeigt. Genau dort ist er angefahren und circa zehn Meter weit in diese Richtung geschleudert worden, wo er jetzt noch liegt. Kollege Grünbaum hat hier gerade einige interessante Lacksplitter mit Rostanhaftungen gefunden, es gibt aber keinerlei Glas, weder auf der Fahrbahn noch an der Leiche. Bei einer Pkw-Kollision wäre das fast zwingend zu erwarten gewesen. Magura hat offensichtlich einen Schädelbasisbruch, das Brustbein ist durch und das Rückgrat ebenfalls. Die untere Körperhälfte ist dagegen völlig unverletzt. So als habe ihn in Brusthöhe ein solider, waagerechter Gegenstand getroffen. Das einzig passende Fahrzeugteil, das mir dazu einfällt, ist die vordere Unterkante eines Lkw-Anhängers. Magura muss irgendwie zwischen Motorwagen und Anhänger gestolpert sein, hat stehend die Aufbaukante abgekriegt und geriet dann unter den Anhänger, ohne überrollt zu werden. Die Situation ist anders kaum denkbar. Würde mich wundern, wenn der Fahrer was davon gemerkt hat.
Kurz und gut: Wir suchen ein Lkw-Gespann. Keinen Sattelschlepper, sondern einen Gliederzug. Farbe Gelb, Fluchtrichtung Autobahn.“
Funkstille. Dann hinter ihnen ein Schrei: „Scheiße, der DHL-Laster!“
Uli war hinzugekommen und hatte den Schluss von Henrys Statement mitgehört. Er riss sein Funkgerät aus der Brusttasche, trat zur Seite und begann, eine Salve an Informationen und Forderungen in Richtung Leitstelle abzufeuern.
Jenseits der Unfallstelle zerdepperte eine halbleere Colaflasche auf dem Gehweg in grobe Scherben und Manni Schulte trieb einen keifenden Otto mit kräftigen Schubsern und wüsten Beschimpfungen in den Streifenwagen, der Sekunden später mit qualmenden Reifen und Blaulicht in Richtung Verler Straße davonschoss.
Lütkehennerich war ein paar Schritte in Richtung Kollisionsstelle gegangen und stand still auf der Straße, einen Zeigefinger in scharfer Konzentration auf Mund und Nase drückend. Uli gesellte sich zu ihm.
„Seltsam. Findest du nicht auch?“, fragte Uli einfach so in den freien Raum.
„Was?“
„Na ja, es ist schon ziemlich schwierig, bei einem vorbeifahrenden Lkw-Gespann genau zwischen Motorwagen und Anhänger zu laufen. Da muss sich unser Robert schon richtig Mühe gegeben haben. Vielleicht hat da ja auch jemand nachgeholfen.“
„Meinst du echt? Ich weiß nicht. Vielleicht hat er nur nicht gecheckt, dass da noch ein Anhänger hinten dranhängt und ist direkt losgelaufen, als der Motorwagen vorbei war.“
„Hmm, kann sein. Aber ich würde grundsätzlich nicht ganz ausschließen, dass da einer dran gedreht hat. Und wir müssen auf den Flamingo achten. Der nervt ganz schön rum, oder?“, raunte er. „Zwei Minuten noch, dann geht der hoch wie ‘ne Rakete!“
„Sehe ich auch so.“ Henry zog die Stirn kraus. „Ist das der neue Chef?“
„Fürs erste ja. Kommt direkt von der Polizei-Hochschule. Leitet jetzt die Führungsstelle und provisorisch dazu die komplette Einsatz-Direktion, bis unser Polizeidirektor aus Afghanistan wiederkommt oder ein neuer Chef gefunden ist. Nicht gerade ein Glücksgriff.“
Henry runzelte die Stirn. „Am besten er kriegt irgendwie was zu tun. Ich habe da ‘ne Idee!“
Der Genannte stand schon wieder mutterseelenallein mitten im Geschehen. Alles um ihn herum lief in hektischer Präzision wie ein Actionfilm ab, aber er war mal wieder nur Zuschauer. Kinobesucher in der dritten Reihe. Eine Träne quoll aus seinem Augenwinkel, sein linker Nasenflügel flatterte unkontrolliert und er stöhnte lange und lautlos.
Henry sah ihn einen kurzen Moment an und ging auf ihn zu.
„Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Herr Meier-Wirsing?“
„J... ja, bitte?“
„Wir brauchen dringend eine starke Ermittlungsgruppe, um die Fahndungsmaßnahmen zu koordinieren. Bei der Fuhrparkgröße von DHL ist ein einzelnes Team völlig überfordert. Und natürlich einen erfahrenen Kommissionsleiter. Vielleicht jemand von der Kripo?“
„Nein, auf gar keinen Fall!“ Meier-Wirsing blühte schlagartig auf. „Ich werde die Ermittlungskommission natürlich persönlich leiten! Zufällig habe ich selbst an der Hochschule der Polizei zu diesem Thema referiert. Unterstützen Sie Herrn Dettmer hier weiter am Unfallort und halten Sie engen Kontakt zu mir, ich kümmere mich um alles andere.“
Eine EK! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Egal, alles würde gut werden. Kommissionsleiter! Kräfte von Kripo und Verwaltung anfordern und befehligen! Fahndungshinweise und Ermittlungsergebnisse in den Medien präsentieren! Und vor allem am Montag in der Führungsrunde. Die würden staunen. Besonders der Kripochef, dieser Reiffeisen, der ständig für seine drei bis vier EKs Leute aus seiner, Meier-Wirsings Direktion wegsaugte, ohne dass man sich dagegen wehren konnte. Zu allem Überfluss machte er sich jeden Morgen damit auch noch wichtig und ließ bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten den Klugscheißer raushängen. War der in den letzten Wochen irgendwie weitergekommen? Kein Stück!
Diese Sache hier war dagegen sehr erfolgversprechend. Gab es nicht in den großen Flotten von jedem Lkw GPS-Daten? Bestimmt! Im Geiste rief Meier-Wirsing polizeitaktische, kriminalistische und gerichtsmedizinische Schlagworte auf, die er zusätzlich zum Einsatz zu bringen gedachte. Leichenspürhunde, Mantrailer, DNA-Analyse, Öffentlichkeitsfahndung, Toll-Collect. Was war noch mal dieses Leukomalachit-Grün? Egal, es klang auf jeden Fall unglaublich schlau! Leicht und locker flossen ihm die Begriffe aus dem Langzeitgedächtnis und wurden im Arbeitsspeicher griffbereit abgelegt.
Meier-Wirsing hörte lauter werdende Stimmen hinter sich. Zwei Kamerateams waren eingetroffen und diskutierten mit den Absperrkräften über das Betreten des Unfallortes.
Bestens vorbereitet machte Meier-Wirsing sich auf den Weg zu ihnen.
Rechts im Pättken zum Städtischen Gymnasium, dicht an einem großen Rhododendron, stand jemand und beobachtete interessiert das Geschehen. Im Vorbeigehen erhaschte Meier-Wirsing einen flüchtigen Blick auf die schlanke, dunkle Gestalt mit Basecap und Kapuzenpulli. Er hielt inne und sah genauer hin, aber da war sie auf einmal spurlos verschwunden. Komisch. Oder Einbildung? Hoch erhobenen Hauptes und mit energisch vorgerecktem Kinn stelzte er den laufenden Kameras entgegen.
„So, das war's!“ Uli packte die letzten Kegel und Blitzleuchten in den Streifenwagen, Patrick löste weiter hinten einen Streifen Flatterband von einem Laternenpfahl ab. Die Friedrich-Ebert-Straße lag friedlich da wie immer. Nur ein paar Kreidestriche deuteten noch darauf hin, dass hier vor kurzem ein Mensch getötet worden war. Und ein kleiner Fleck Ölbindemittel, von dem niemand ahnen konnte, dass er eine ganz andere, eine rote Flüssigkeit aufgesaugt hatte.
„Verdammt, schon zwei Uhr.“ Henry zog die Warnweste aus und reichte sie Uli. „Wird Zeit, dass ich in die Koje komme.“
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