Das Gespräch verstummte schlagartig, Blicke wie Diamantkernbohrer fraßen sich in Wände und Decken.
Wie jeden Tag seit 15 Jahren erschien um Punkt 8:35 Uhr der Leitende Polizeidirektor Herbert Hirschacker. Er ging kurz um den Tisch und gab jedem die Hand. Dann setzte er sich auf einen freien Stuhl irgendwo mitten zwischen die Kollegen. Im Unterschied zu allen anderen Führungskräften weigerte er sich standhaft, einen festen Platz zu besetzen, erst recht den am Kopfende, der daher gewöhnlich frei blieb. Nicht heute. Meier-Wirsing hatte wie selbstverständlich vor dem Ende Platz genommen und umfangreiches Bild- und Aktenmaterial um sich herum drapiert, das er intensiv studierte. Zwischendurch warf er Blicke in die Runde, mit denen er den restlichen Besprechungsteilnehmern nonverbal zu verstehen gab, dass er hier und heute die Hauptrolle zu spielen gedachte.
LPD Hirschacker schien die Situation völlig zu ignorieren. Er nickte dem Dienstgruppenleiter der Leitstelle zu. PHK Braun räusperte sich.
„Okay, zum Einsatzgeschehen. Zunächst hätten wir einen Geschäftseinbruch in der Gütersloher Innenstadt. Diesmal war es das 'Gents', der neue Herrenausstatter in der Spiekergasse. Die komplette Sommerkollektion ausgeräumt. Schlosszylinder fachmännisch gezogen, Beuteschaden bei 50.000 Euro, keine Zeugen, keine Täterhinweise.“
„Die müssen doch mit dem Lkw vorgefahren sein bei der Beute. Und das soll keiner gemerkt haben?“ Maleczyk runzelte misstrauisch die Stirn.
„Sicher hat jemand im Vorbeigehen einen Lkw gesehen“, mutmaßte Reiffeisen. „Fragt sich, ob etwas verdächtig war. Anlieferverkehr ist völlig normal in der City, auch nachts. Wenn das clever gemacht ist, merkst du im Vorbeigehen nicht unbedingt, ob hier aus- oder eingeräumt wird.“ Die Themen wechselten. Routinemäßig spulte PHK Braun die weiteren Ereignisse vom Wochenende ab. Schlägereien, Vermisstenfälle, häusliche Gewalt und festgenommene Straftäter.
Meier-Wirsing zwang sich eisern zur Ruhe und studierte seine Unterlagen. Er konnte es aber nicht verhindern, dass seine Füße sich unbemerkt selbstständig machten und einen unrunden Rhythmus auf den alten grünen Velours tappten. Einige der Besprechungsteilnehmer bemerkten die Zappelei und sahen sich vielsagend an.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kam PHK Braun auf den Punkt: „Ja, herausragendes Ereignis war der tödliche Unfall mit Flucht von Freitagnacht. Herr Meier-Wirsing war Einsatzleiter.“ Erwartungsvoll blickte er letzteren an, um ihm das Wort zu erteilen. Der holte gerade Luft, um zu seinem wohldurchdachten Vortrag anzusetzen, als Kriminaldirektor Reiffeisen ihm mit unglaublicher Kaltschnäuzigkeit in die Parade fuhr.
„Den Grundsachverhalt kennen wir alle aus der Zeitung. Frage: Wie ist der Ermittlungsstand und wie lange gedenken Sie, diesen exorbitanten Kräfteansatz zu fahren? Es kann doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Lkw zu überprüfen. Ich habe nicht eine EK zu laufen, ich habe derer vier auf einmal. Ich brauche meine Männer zurück.“
„Die Sie seit über sechs Monaten aus meiner Direktion abgezogen haben, wenn ich erinnern darf!“ Meier-Wirsing hatte sich gut vorbereitet. So schnell ließ er sich hier und heute nicht abservieren.
„Zu Ihrer Kenntnis: Es sind 14 infrage kommende Lkw. So einfach wie Sie sich das vorstellen, ist die Sache aber nicht. Denn jedes Lkw-Gespann besteht aus fünf unabhängigen Komponenten. Da haben wir den Motorwagen, dazu die Anhängerlaffette. Jedes dieser Fahrgestelle bekommt dazu einen getrennten Kofferaufbau, die so genannte Wechselbrücke. Ja und dann ist da noch der Fahrer. All diese Komponenten werden ständig getauscht. Wir müssen also 14 Personen und 56 Objekte an etwa 30 verschiedenen Standorten im gesamten Bundesgebiet überprüfen, jeweils unter Einsatz von Ermittlern, Leichenspürhunden und Kriminaltechnikern.“
Reiffeisen knirschte hörbar mit den Zähnen. Dieser Kläffköter biss tatsächlich zurück.
„Wie sind Sie eigentlich auf DHL gekommen? Unfallzeugen gab's doch keine!“, bohrte er nach. Irgendwo musste hier doch eine faule Stelle zu finden sein.
„Kompetente Spurensuche am Unfallort“, konterte Meier-Wirsing genüsslich. „Steht alles direkt auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können!“ Mann, der Spruch kam gut, den würde er sich merken!
Reiffeisen knurrte unwillig. Nicht dass er ansatzweise kontraproduktiv eingestellt wäre, im Gegenteil. Ihm ging als waschechter Kripomann nur leider jegliches Verständnis für verkehrspolizeiliche Sachverhalte ab. Treu der Devise: Kripo kann ich aus dem FF, für alles andere reicht mein Führerschein.
„So ist das“, pflichtete LPD Hirschacker dem Flamingo bei. Der alte Hase lächelte versonnen vor sich hin. „Kollege Lütkehennerich war nicht zufällig am Unfallort?“
Meier-Wirsing wand sich verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Eigentlich wollte er selbst hier die Lorbeeren einheimsen. „Ja richtig“, gab er zu, „der kam zufällig vorbei, gerade aus dem Urlaub.“
„Ach, der obdachlose Wanderarbeiter? Ich dachte, der wäre wieder irgendwo in Marokko, die Wüste begrünen?“ POR Maleczyk sah mit süffisantem Augenaufschlag in die Runde.
„Wie, obdachloser Wanderarbeiter?“ Polizeirätin Nora Brettschneider war Lehrgangskollegin von Meier-Wirsing und wie er Juristin, aber ungleich hübscher und sportlicher. Sie leitete seit kurzem die Stabsdienststelle.
„Ob Sie's glauben oder nicht, Kollege Lütkehennerich ist o.f.W. Ja wirklich: ohne - festen - Wohnsitz. Vor sechs Jahren hat seine Frau ihn rausgeschmissen. Seitdem wohnt er in so einem Mörderteil von Wohnmobil, das er selbst zusammengebraten hat und ist nirgendwo amtlich gemeldet. Ein Unding für einen Beamten, wenn Sie mich fragen. Wie zahlt der seine Steuern? Wie kriegt der seine Post? Wie ist der telefonisch erreichbar? Und wie der rumläuft: Immer auf Malocher getrimmt: schwarze Cordhose mit Doppelschlitz und Zollstock. Dann dieser unmögliche graue Pullover. Ich glaub, der hat noch keine Waschmaschine von innen gesehen. Dazu Weste und Schlapphut. Und natürlich den größten Ohrring, den er kriegen konnte. Was wirft denn das für ein Bild auf uns?“ Selbstgefällig legte Maleczyk sich zurück. 'Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich', dachte er und grinste hinterhältig.
„Das ist ja noch längst nicht alles.“ KD Reiffeisen haute mit Schmackes in die Kerbe hinein. „Zu allem Überfluss kriegt dieser Nichtsesshafte auch noch Teilzeit genehmigt und gondelt jedes Jahr locker drei bis vier Monate durch die Weltgeschichte. Da fällt mir wirklich nichts mehr zu ein.“ LPD Herbert Hirschacker sah seine Führungsriege mit müden Augen an. Dies war einer der Momente, wo er sich besonders intensiv auf seinen verdienten Ruhestand freute, der in wenigen Monaten beginnen würde.
„Zu Ihrer Kenntnis: Lütkehennerich war in seinem ersten Leben Zimmermann, er ist als Geselle tatsächlich einige Jahre lang auf der Walz gewesen. Kluft und Ohrring trägt er also völlig zu Recht, niemand kann ihm das verbieten. Die Rechtsabteilung hat das schon vor Jahrzehnten durchgeprüft. Ein Gleiches gilt für seinen Antrag auf Teilzeit. Er hat eine Dreiviertelstelle. Anders als andere Leute reduziert er aber nicht seine Wochenstunden, sondern arbeitet voll und nimmt das komplette Kontingent auf einmal. Da er das immer im Winter nach Neujahr tut und daher in der Haupturlaubszeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, gibt es keinen vernünftigen Grund, ihm die Sache zu verwehren.“
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