„Überhaupt nicht. Nach der Ausbildung ging es für ihn nach Köln-Kalk. Ein Kollege aus der B-Tour war da mit ihm zusammen, op de Scheel Sick. Ja, und wenn’s da zur Sache ging und die Fäuste flogen, was ungefähr zwei- bis dreimal pro Schicht der Fall war, dann saß unser Sönke im Streifenwagen und hatte die Knöpfe runter.“
„Ah, ein Schisshase also auch noch?“ Kopfschüttelnd lehnte Henry sich zurück. „Da wird er ja lauter Freunde in der Truppe gehabt haben.“
„Exakt. Es dauerte genau sechs Monate, dann hatte unser Sönke gekündigt, sich in der Uni Münster in Jura eingeschrieben und in Rekordzeit summa cum laude promoviert. Aber anstatt jetzt eine Karriere als Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt anzustreben, ist der Irre zurück zur Polizei und mit seinem zweiten Staatsexamen direkt in den Höheren Dienst eingestiegen. Und schon habe ich ihn wieder an der Backe, nur dass ich mich jetzt nicht mal mehr wehren kann. Ich kann doch einem Polizeirat nicht einfach eins aufs Maul hauen!“
Eine lebhafte Diskussion brach los über den neuen kommissarischen Direktionsleiter. Eyleen O'Toole saß am Kopfende und hörte aufmerksam zu, zwei smaragdgrüne Augen voller Mitgefühl auf Manni gerichtet. Dann veränderte sich ihr Blick. Kalt und unergründlich wie die irische See durchdrang er die Decke der Kaffeebude und fokussierte einen Punkt, der deutlich außerhalb des Raumes, irgendwo oben im Gebäude liegen musste. Das Mädchen griff mit der linken Hand blind eine Banane aus der Obstschale, wobei eine steile Falte auf ihrer Stirn erschien. Die Rechte glitt zu einer der zahlreichen Gürteltaschen, die sie am Koppel trug und zog mit fließender Bewegung ein solides Klappmesser hervor, das sie einen Moment in Kopfhöhe hielt. Mit dem Daumen betätigte sie den Einhand-Mechanismus und fuhr eine ziemlich verbotene Klinge aus. Dreieinhalb Zoll handgeschmiedeter Damaszenerstahl rasteten mit einem satten Klick ein, die böse zugeschliffene Spitze senkrecht nach oben gerichtet. Ruhig setzte Eyleen die stark gemaserte Schneide an und versetzte der Banane knapp unterhalb des Stiels sorgsam einen tödlichen Halsschnitt. Mit einer Daumenbewegung verschwand der haarscharfe Stahl im Griff, und das Messer war eine Sekunde später wieder sicher in der Gürteltasche verschwunden. Mühelos zog sie nun die Schale von der leicht überreifen Frucht, die exakt das Aroma verströmte, das sie besonders liebte. Ihre Gesichtszüge, eben noch völlig entrückt, entspannten sich und sie schaute wieder freundlich kauend in die Runde. Uli hatte die Szene aus dem Augenwinkel verfolgt und sich so seine Gedanken gemacht.
„He Eyleen, wen hast du denn da gerade aufgeschlitzt?“ raunte er ihr zu.
„Das weiß man nicht“, meinte sie unbestimmt und ließ damit offen, ob die Banane nun tatsächlich Opfer einer personifizierten Ritualschlachtung geworden war oder nicht. Uli sah die junge Kollegin aus den Augenwinkeln an, die ziemlich nett und hilfsbereit rüberkam, aber irgendwie schweigsam und schwer durchschaubar war.
20 Minuten später ging die Tür auf und erneut trat unerwarteter Besuch ein. Der Landrat. Er wirkte etwas gehetzt, musterte aber sogleich anerkennend das Buffet, ließ sich von Henry eine Nürnberger aus der großen Pfanne aufschwatzen und wandte sich dann an Franzl.
„Herr Horstmann, können Sie mir vielleicht aus der Patsche helfen? Der Polizeibeirat tagt oben im Unterrichtsraum, und Herr Meier-Wirsing war für einen Vortrag über Angsträume in Gütersloh vorgesehen. Er fällt aber leider aus. Könnten Sie hier vielleicht spontan Ihre dienstlichen Erfahrungen einbringen?“
Franzl runzelte die Stirn. „Wir haben hier doch gar keine No-Go-Areas oder Angsträume. Oder habe ich was verpasst?“
„Nein, natürlich nicht. Aber genau das wird vom Beirat ja hinterfragt. Da sitzt so ein Oberschlaumeier drin, der immer schwarzmalen muss.“
„Sorry, sonst gerne“, zog sich Franzl aus der Affäre. „Leider bin ich heute Chef vom Dienst und kann nicht einfach so weg.“
„Ah natürlich, wie dumm von mir.“ Der Landrat schaute betreten.
„Aber Herr Haferkamp hat an der Fachhochschule zu dem Thema recherchiert. Für seine letzte Hausarbeit. Uli, kannst du da aushelfen?“
„Klar, warum nicht? Ich greife nur schnell meine Unterlagen, dann kann’s losgehen.“
Der Landrat seufzte erleichtert, beide machten sich auf den Weg nach oben.
Joe von der Leitstelle meldete sich über die Haussprechanlage.
„Ich hoffe mal, ihr habt alle aufgegessen. Der 25/11 muss raus in die Stadt. Hilo hinter der Martin-Luther-Kirche. RTW und NEF kommen etwas später, die sind gerade mit Mann und Maus auf der Autobahn beim Unfall und haben gefragt, ob ihr erst mal gucken könnt.“
„Könnt ihr das übernehmen?“ Manni sah Eyleen an. „Ich hab von gestern noch ‘nen ganzen Berg zu schreiben.“
„Kein Problem“, meinte Eyleen freundlich. „Los, Otto, kleine Verdauungsfahrt.“
„Hä? Übernehmen?“ Freiwillige und sonst irgendwie vermeidbare Tätigkeiten passten Otto grundsätzlich nicht in den Kram, dementsprechend mopperte er sofort los.
„Hast du’s hier jetzt auch schon zu sagen? Vielleicht fragst du erst mal? Da klebt doch Scheiße dran an der Sache, das riech ich doch drei Meilen gegen den Wind. Aber Frollein O’Toole schreit ganz einfach hier und ich kann’s hinterher ausbaden und hab den ganzen Salat am Arsch!“
Franzl schaute aus dem Wachraum kurz und eindringlich um die Ecke. Otto machte widerwillig die Klappe zu, schob bockig beide Hände in die Hosentaschen und trollte sich schmollend raus Richtung Streifenwagen.
Im Treppenhaus versperrte ein großer Haufen Bauschutt halb den Weg. Der stumpfe Geschmack von Zementstaub legte sich schwer auf Zähne und Zunge. Eine Wand war aufgestemmt, uralte Kabel und Verteilerdosen waren darin zu sehen. „Zwei Jahre noch“, sagte der Landrat mehr zu sich selbst. „Dann ziehen wir um.“ Uli sagte lieber nichts dazu.
„Was hat Herr Meyer-Wirsing denn?“, fragte er stattdessen. Der Landrat blickte sich um. „Ich weiß auch nicht. Er steht da, will seinen Vortrag beginnen, und auf einmal bleibt ihm die Stimme weg. Alles was aus ihm rauskam war ein heiseres Krächzen. Jetzt sitzt der Arme in der Teeküche vom zweiten Kommissariat und hat Halsschmerzen, das glaubt kein Mensch.“
Uli erhaschte aus dem Fenster einen Blick auf Eyleen, die unten gerade zum Streifenwagen ging, einen übelst gelaunten Otto im Schlepp. Als hätte sie den Blick gespürt, sah sie hoch zu ihm. Sie drehte die Handflächen nach oben, zuckte mit den Schultern und lächelte unschuldig. Dann stieg sie ein und fuhr mit qualmenden Reifen vom Hof. Tief in Gedanken stolperte Uli dem Landrat hinterher die Treppe hinauf.
Keine fünf Minuten später kam Otto über Funk für die Wache:
„Franzl, schick mal die Kripo raus, das is nix für uns.“
„Wie Kripo?“
„Lupenreine Leichensache. Unsere liebe Irene hat’s dahingerafft. Liegt hier stocksteif unterm Rhododendronbusch, Rückseite Martin-Luther-Kirche.“
„Wer, Irene Männertreu etwa?“
„Haargenau dieselbe.“
„Okay, ich schick euch den Tatortdienst.“
Franzl nahm den Telefonhörer auf und veranlasste das Nötige. Fünf Minuten später sah er Hermann und Dierk-Helge durch die Tür gehen. „Komisch“, dachte er sich. „Irgendwie haben die immer Wochenenddienst, wenn wir auch dran sind. Ob die sich das aussuchen? Ich glaub, ich frag Hermann nachher mal.“ Die Gelegenheit ergab sich schneller als gedacht. Das Telefon klingelte und Hermann war dran.
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