1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 „Die meisten Leute machen sich ein völlig falsches Bild von einer Flucht ins Ausland, meinte Reiffeisen. Sobald Sandmann sich irgendwo niederlässt, muss er sich zwangsläufig behördlich anmelden. Er muss Einreisebestimmungen und Visapflichten beachten. Spätestens dann fällt auf, dass er international gesucht wird. Okay, etliche Länder liefern bei Vermögensdelikten nicht aus. Aber genau diese Länder sind alles andere als demokratische Rechtsstaaten. Egal wo Sandmann auftaucht mit seinem Geld, garantiert wartet dort schon ein Haufen korrupter Beamter und Ganoven darauf, ihn wie eine Weihnachtsgans auszunehmen. Falls er plant, illegal im Untergrund zu leben, wird es richtig teuer, da braucht er Helfer vor Ort. Finanziell machst du dabei immer Minus. Und wer will schon mit der ständigen Angst leben, geschnappt und ausgeliefert zu werden? Eine Flucht ins Ausland macht Sinn, wenn du hier eine längere Haft und den Verlust deiner sämtlichen Vermögenswerte befürchten musst. Und das ist bei Sandmann eindeutig nicht der Fall.“
„Und was passiert jetzt weiter?“ Unfreiwillig begann Hermann nun doch, sich irgendwie für den Fall zu interessieren.
„Alles läuft wie geplant. Keine Fluchtgefahr, kein sofortiges Einschreiten. Es wird allerdings geprüft, ob man vorzeitig an Sandmann herantritt und ein Steuerstrafverfahren eröffnet.“
„Dann war es also nichts mit deinem Verdacht von wegen Sandmann verflüssigt sein Vermögen, um sich ins Ausland abzusetzen?“
„Jedenfalls nicht, was Reiffeisens Meinung anbetrifft.“
„Und was sagt er sonst noch so, der Herr Reiffeisen?“
„Er sagt, mein Engagement fände er ganz toll. Er will auch nicht ausschließen, dass Sandmann irgend ‘ne Leiche im Keller liegen hat, von der keiner was weiß, und dass er deshalb heimlich seine Flucht ins Ausland vorbereitet. Nur leider spräche bei ihm genau so viel oder so wenig dafür wie bei jedem von uns. Daher riet er mir, meinen Arbeitseifer erst mal darauf zu verschwenden, überhaupt einen vernünftigen Anfangsverdacht für den Versicherungsbetrug zu begründen. Und dann fand er es nicht gut, dass ich direkt bei der Steuerfahndung die Pferde scheu gemacht habe, ohne das Fachkommissariat zu beteiligen. Außerdem wäre ich mit meinen Fällen ziemlich im Rückstand, ein paar davon würden schon Schimmel ansetzen.“
„Aua, das hört sich ziemlich nach Rüffel an“, meinte Hermann mitfühlend.
„Das war kein Rüffel“, grummelte Dierk-Helge schmerzlich. „Das war ein lupenreiner Einlauf, war das.“
Er bosselte noch etwas auf seiner Tastatur herum, dann sprang er plötzlich auf.
„Du, ich mach heute früher Feierabend!“ Er schnappte sich seine alte Aktentasche, ein Erbstück von seinem Großvater und rauschte zur Tür.
Hermann sah ihm verwundert nach. „Früher Feierabend machen“ war bei Dierk-Helge bis jetzt nicht mal zu Ankes Geburtstag vorgekommen. Anke war seine Frau, die er heiß und innig liebte und sein Fels in der Brandung eines Ozeans voller lethargischer Ignoranten. „Mach mal 'n paar Tage Urlaub“, rief er ihm besorgt hinterher.
Als Anke Reuter gegen halb fünf wie gewohnt von der Arbeit kam, genügte ihr ein flüchtiger Blick, um zu checken, dass bei Dierk-Helge im Dienst mal wieder irgendwas angebrannt war. Alarm war ja eigentlich schon angesagt, wenn er vor fünf Uhr zu Hause war. Dann war ihm schon irgendeine Laus über die Leber gelaufen. Wenn er aber nachmittags schon ein Bier trank, bedeutete das Katastrophe. Dierk-Helge machte gerade die zweite Flasche auf und stierte vor sich hin. Dafür gab es nur eine Medizin. Kommentarlos schlich Anke ins Bad und ließ Wasser in die große Wanne ein. Sie schüttete eine ordentliche Portion von dem exquisiten Badesalz hinein, das sie neulich aus Italien mitgebracht hatten. Sie zündete ein paar Kerzen an, zog ihre Sachen aus und sprang kurz unter die Dusche. Dann ging sie so wie sie war in die Küche zu Dierk-Helge, der völlig entgeistert von seiner Flasche aufsah.
„Komm schon“, sagte sie zu ihm. „Dein Bier kannst du mitnehmen.“
Eine gute Stunde später saßen sie im Bademantel am Tisch und aßen Spaghetti Tricolore, jenes Gericht, das in knapp 15 Minuten zubereitet ist und für das manch ein Gourmet alles stehen lässt, sofern die richtigen Zutaten richtig verwendet wurden. Und das war hier der Fall. Dierk-Helge ging es prima, sein seelisches Gleichgewicht war wiederhergestellt. Er wirkte förmlich entspannt, wofür es gute Gründe gab. Trotzdem blieb er bei der Sache, in die er sich einmal festgebissen hatte.
„Irgendwas ist da oberfaul bei Sandmann. Ich spür das im Urin. Wenn man doch nur dieses Spaniengeschäft irgendwie durchleuchten könnte. Aber für ein Ermittlungsersuchen übers BKA fehlt mir einfach die Befugnis. Und die WiKri-Leute spielen leider nicht mit.“
Voller Stolz betrachtete Anke ihren Helden. Er war halt ihr kleiner Junge, den sie liebevoll umsorgen musste, aber Terrier durch und durch, wenn es um seine Arbeit ging. Zu süß.
„Warum schaust du dir die Sache nicht einfach selbst an?“
„Wie? Du meinst, ich soll da einfach privat hinfahren? Vergiss es. Wenn Reiffeisen das mitkriegt, dreht er mich durch den Wolf. Nee, Anke, so was gibt’s nur im Film.“
Anke schaute ihren Schatz mit großen braunen Augen an.
„Also, ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber ich habe plötzlich irgendwie tierischen Bock auf einen Kurzurlaub in Spanien.“ Sie klappte ihren IPad auf, der wie immer griffbereit auf dem Tisch lag. Sie tippte etwas ein, scrollte mit dem Finger und las. „Da: Eine Woche Málaga für Kurzentschlossene: Appartement mit Flug 240 Euro pro Nase. Ab Paderborn!“
Dierk-Helge tapste im Zimmer herum. Er war hin- und hergerissen von der Idee, hatte aber förmlich Panik vor einem weiteren Zusammenstoß mit seinem Chef Reiffeisen, dessen Argumentation er äußerst widerwillig als schlüssig anerkennen musste. Er wusste zudem, er war ohnehin schon verschrien als hyperaktiver Oberverdachtschöpfer mit zu wenig Bodenhaftung. Ein weiterer Zwischenfall würde ihm das Genick brechen. Nein, ein Einlauf pro Woche reichte selbst einem Dierk-Helge.
„Nee wirklich, Schatz“, grummelte er deshalb entschuldigend, „aber das ist mir echt zu brenzlig. Tut mir leid.“ Betreten sah er, wie Anke eifrig etwas in den iPad hackte. Dann tippte sie mit Schwung auf „Enter“.
„Was meintest du gerade?“, fragte sie und schaute verwirrt hoch.
„Wir können nicht privat in Spanien ermitteln.“, erklärte Dierk-Helge nun schon bestimmter. „Ich breche tausend Vorschriften und komme in Teufels Küche.“
„Quatsch, kein Mensch kann uns verbieten, in Spanien Urlaub zu machen und nebenbei auch noch ein Investitionsobjekt zu besichtigen, das sogar die als extrem konservativ verschriene Landsparkasse Bockhorst als solide Geldanlage bewirbt.“
Anke wedelte mit dem Exposé und ihre Rehaugen blickten ihn völlig unschuldig an. Dierk-Helge wusste, er konnte dem Blick nicht lange standhalten, daher wandte er sich ab. „Ausgeschlossen“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Am besten wir vergessen das.“
„Zu spät“, meinte Anke wie nebenbei. „Ich hab gerade gebucht.“
Frühstück ist ein völlig unzureichender Begriff für das, was momentan in der Kaffeebude der Polizeiwache Gütersloh stattfand. Alle vier Kochplatten der Einbauküche im rückwärtigen Teil des Raumes arbeiteten auf Hochleistung. Franzl Horstmann, der mit Uniform und geblümter Schürze ein sehr kurioses Bild abgab, hatte zudem im Flur seine 80er Paellapfanne aufgebaut, in der gerade ein Dutzend Spiegeleier umeinander schlinderten. Frühstücksspeck, Lauchzwiebeln und Möhrenstifte brutzelten einträchtig neben Nürnberger Würstchen und Datteln im Speckmantel. Der mächtige, doppelflammige Gasbrenner, gefeuert von einer 11-kg-Propangasflasche, machte ordentlich Dampf. Undenkbar in einem normalen Polizeigebäude, aber in der alten Fabrik mit fünf Metern Deckenhöhe kein Problem, nicht mal die Rauchmelder sprangen an.
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