Am nächsten Morgen, so früh sie es nur verantworten konnte, machte Paula sich rasch auf den Weg zu Ruth, ihrer äußerst scharfsinnigen, mütterlichen Freundin, die am winzigen Katzensteg nahe der Kirche in Suderburg wohnte und dort so eine Art kleines Heimatmuseum betrieb, in dem sie in erster Linie alte Bücher, die sich mit der Geschichte Suderburgs befassten, aber auch alte Postkarten, Haushaltsgegenstände aus längst vergangen Zeiten und einige alte Möbelstücke, sowie Geschirr aufbewahrte. Ruth war früher lange Zeit Lehrerin in Suderburg gewesen und hatte sich schon sehr lange mit der Geschichte des Ortes und seinen Sagen befasst. Tief in Gedanken ging Paula den schnurgeraden Wehrbrink entlang, dessen schlanke, hoch aufragende Fichten ihr heute in ihrer Höhe und strengen Düsternis fast bedrohlich erschienen.
Auch die Sträucher und die hohen Brennesselbüsche längs des Wehrbrinks kamen ihr heute irgendwie aggressiv vor, als würde etwas Unbekanntes sie beschäftigen und ihre Brennhaare drohend aufrichten. Selbst der niedrige Holzlattenzaun längs der Straße und erst recht die abweisende Hecke, die Friederike Bornhoffs Wehrkamp umgab, wirkten abweisend, als würden sie eine eindringliche Warnung aussprechen. Paula war froh, als sie zu der schmalen Treppe kam, die zwischen Bäumen und Sträuchern zu dem Flüsschen Hardau hinunter führte. Doch auch hier fühlte sie sich heute irgendwie unsicher, ganz so als würde die Vegetation sie belauern und jeden ihrer Schritte registrieren. Sie war schon so oft hier gegangen und hatte doch noch nie wirklich bemerkt wie undurchdringlich und fast schon gefährlich hier das grüne Dickicht des Waldes aussah. Büsche und Ranken neigten sich ihr aufdringlich zu und Paula dachte etwas beunruhigt, wenn sie mir den Weg versperren wollten, dann könnten sie es tun . Selbst ein unauffindbares Verschwinden in diesem grünen, fest verschlungenen Pflanzenwall erschien Paula heute wahrscheinlich. Merklich erleichtert überquerte sie die schmale Brücke über das kleine Flüsschen Hardau. Hier sah alles wieder friedlich aus. Wie immer, wenn sie hier entlang ging, las sie auf der hier angebrachten Tafel die Stationen, die diese schmale kleine Hardau auf ihrem Weg ins Meer nahm.
Paula kannte die Stationen längst auswendig und las sie gewohnheitsmäßig doch immer wieder. Die Hardau floss bei Holdenstedt in die Gerdau, mit der Gerdau in die Ilmenau, mit der Ilmenau bei Winsen in die Elbe und mit der Elbe bei Cuxhaven in die Nordsee und dann weiter in den riesigen Atlantik. Sie fand das immer wieder beeindruckend und wünschte der kleinen Hardau stets auf ihrer großen Reise in die weite Welt viel Glück. Es war ein kleines Ritual beim Überqueren der Brücke und gefiel Paula immer aufs Neue.
Sie bog rasch in die Holxer Straße ein, die am Friedhof und zu Paulas Unbehagen auch an Michael Gablers Gärtnerei vorüber führte. Danach dann direkt in den alten Ortskern von Suderburg und zur Hauptstraße und dem Katzensteg, wo Ruth ihr kleines Haus hatte. Es war viel kleiner als die stolzen Stadthäuser in Uelzen, und auch wesentlich geduckter und langgestreckter. Die weiß gerahmten, relativ schmalen Fenster gingen fast bis auf die Erde hinab. Das Häuschen war weiß gekalkt und hatte ein dunkles Dach und nur die dunkel gestrichenen Balken des Fachwerkhäuschens gaben ihm Struktur und ließen es freundlich und gemütlich wirken.
Ein schmales, vielfach unterteiltes Fenster reihte sich an das andere und an jedem hingen putzige, weiße Scheibengardinen. Nur die dunkle, schwere, hölzerne Eingangstüre mit den reichen Ornamenten schien das Häuschen fast zu erdrücken.
Der kleine Katzensteg war eine schmale Gasse, die von der St. Remigius Kirche zum Alten Friedhof führte und kurz vor Ruths Haus an der Bushaltestelle die Hauptstraße überquerte. Nur zwei halbhohe an Holzpfeilern angebrachte und sich überlappende Querbalken in kurzem Abstand hinderten Fußgänger und auch Fahrradfahrer daran, sofort auf die Hauptstraße zu queren. Früher hatte man sich erzählt, dass über dieses schmale Gässchen die Hexen des Ortes anlässlich ihrer Feste zum Blocksberg reisten.
Tief in Gedanken kam Paula bei Ruth an, die noch etwas verschlafen aussah. Paula brannte voller Besorgnis darauf, mit Ruth über ihren seltsamen und beängstigenden Traum zu sprechen. „Was glaubst du“, fragte sie unsicher, „was das zu bedeuten hat.“ „Nun“, meinte Ruth grimmig, „vermutlich dass die nächste Feuertänzerin im Anmarsch ist und wir uns auf einiges gefasst machen müssen.“ Paula nickte besorgt. „Bernadette bekommt also eine Nachfolgerin“, setzte Ruth nach einer Weile gedehnt hinzu und sah Paula mit hochgezogenen Augenbrauen über die runde Brille an, die ihr stets das Aussehen einer weisen, aber auch überaus neugierigen Eule gab.
„Und was bedeutet das genau?“, fragte Paula etwas genervt. Sie brauchte hier gewiss keine Feuertänzerin und schon gar keine, die ihr Alpträume bescherte. Ihr reichte die schöne Bernadette die erste Hüterin, die sie erforschte und von der sie sehr viel lernte, damals, nachdem sie gerade den Tobel geerbt hatte. Als Ruth noch immer schwieg stand Paula wortlos auf, zog ihr Shirt hoch und zeigte Ruth die Verletzungen an ihrem Rücken. Ruth pfiff überrascht durch die Zähne. „Das ist allerdings merkwürdig“, gab sie leise zu und sah Paula erschrocken an. „Ja“, bestätigte Paula bissig, „vor allem wenn man bedenkt, dass es nur ein Traum war.“ Ruth nickte unbehaglich. „Nun“, erklärte sie nach einer Weile gedehnt, „der Legende nach gibt es in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin, eine Frau, die diese besondere Begabung hat mit dem Feuer zu sprechen.“
„Dann war der Feuermann, der in Theodor Storms „Regentrude“ über die Felder tanzte, vielleicht eine Feuerfrau, eine Feuertänzerin?“, fragte Paula und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte lächelnd die Schultern. „Vielleicht“, meinte sie geheimnisvoll und schwieg. „Was weißt du über die Feuertänzerinnen?“, fragte Paula gespannt und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte nur die Schultern. „Wenn in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin kommt, dann frage ich dich, wer kam beispielsweise nach Bernadette?“, fragte Paula gespannt. Ruth sah überrascht auf. „Verflixt“, rief sie dann und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass Paula zusammenzuckte. „Was ist“, fragte sie erschrocken und sah Ruth alarmiert an.
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht wer nach Bernadette kam, ich habe bisher einfach nicht darüber nachgedacht“, gab Ruth grimmig zu und ärgerte sich offensichtlich über sich selbst und ihre Nachlässigkeit. „Bernadette“, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. „Sie lebte im 18. Jahrhundert. Elisabeth, ihre Tochter, war ganz sicher keine Feuertänzerin.“ Paula lachte. „Nein, ganz gewiss nicht“, erwiderte sie. „Eher das Gegenteil.“ „Jetzt haben wir das 21. Jahrhundert“, fuhr Ruth ungeduldig fort. „Wer war die Feuertänzerin des 19. Und wer war die des 20. Jahrhunderts. Warum habe ich mich nicht darum gekümmert?“ „Ja warum nicht“, murmelte Paula. „Ich werde es herausfinden“, versprach Ruth entschlossen und schob das Kinn vor. „Oder ich“, versicherte Paula nicht minder entschlossen. Ruth nickte. Sie sah sinnend aus dem Fenster, dann lehnte sie sich zurück und sagte nachdenklich: „Habe ich dir eigentlich je die Legende vom ‚Hexenfeuer‘ oder“, sie machte eine kurze Pause und sah Paula eindringlich an, „manche sagen auch den ‚Feuerhexen‘ oder“ sie zögerte etwas, „Feuertänzerinnen erzählt?“
„Nein“, entgegnete Paula sofort. „Davon habe ich nie gehört, aber ich habe wohl eine davon“, auch sie zögerte kurz, “gekannt, Bernadette.“ Ruth lächelte. „Ja, ja genau“, sagte sie. „Das meine ich.“ „Erzähl“, bat Paula sogleich, „ich habe so lange nichts mehr über Bernadette gehört.“ Ruth nickte und begann mit geheimnisvoller Stimme leise zu erzählen:
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