1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Paula ließ sich auf dem Stuhl nach hinten fallen und schlug die Hand vor den Mund. „Nein“, sagte sie fassungslos. „Bist du sicher?“ „Absolut“, entgegnete Ruth. „Aber“, begann Paula und verstummte, denn in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. „Wie kann das sein?“
„Johanna war eine Hüterin des Tobels. Weshalb hat Friederike dann den Wehrkamp?“, „Johanna scheint ihn gekauft zu haben, als sie mit den Kindern nach Karls Tod auf dem Tobel lebte“, erklärte Ruth. „Bisher haben wir ja immer noch nicht herausgefunden, wie es mit ihr weiter ging nach Karls Tod“, bemerkte Paula seufzend. „Das war ein unverzeihlicher Fehler“, sagte Ruth streng, „dass wir nicht viel intensiver danach gesucht haben. Wir werden uns sofort darum kümmern.“ „Ja“, murmelte Paula noch immer überrumpelt, „sicher, das werden wir. Aber du weißt ja, da war diese Sache mit Leonie und mit…“ „Ja, ich weiß“, unterbrach Ruth sie ungeduldig. „Das alles ist zu beachten, gewiss. Und die Feuertänzerin wird auch kommen. Aber wenn der Tobel sich mit dem Wehrkamp verbündet, musst du wissen, was der Grund dafür ist und was zu tun ist.“ Paula nickte beklommen. Ihr schwirrte der Kopf.
Sie liebte Ruth sehr, aber jetzt musste sie alleine sein. Sie musste dringend ihre Gedanken sortieren. Tief in diese Gedanken versunken, fuhr sie nach Hause und verpasste sogar den kleinen Seitenweg, der zu ihrem Grundstück führte. Plötzlich stand sie am Ende der Straße, wo die Treppe zur Hardau begann. Sie wendete kopfschüttelnd und fuhr zu ihrem Haus zurück. So etwas war ihr noch nie passiert.
Paula hatte sich nach einer heißen Dusche und der Behandlung ihrer Prellungen und Brandblasen wieder einigermaßen gefasst und freute sich auf einen möglichst entspannten Abend, als spät am Abend das Telefon klingelte. Sie war nur mäßig begeistert, nahm den Anruf aber doch entgegen und musste lächeln, als Ruth am Apparat war und sichtlich aufgeregt klang. „Kannst du nochmal vorbei kommen?“, fragte sie atemlos. Paula wunderte sich. Ruth war sonst immer sehr überlegen und verlor eigentlich nie die Fassung. Sie wusste sehr viel und es gab wenige Dinge, die sie so sehr überraschen konnten. Es musste also etwas wirklich Gravierendes passiert sein, wenn Ruth so aufgeregt klang.
Als Paula wenig später bei Ruth am Katzensteg ankam, öffnete sie die Tür, noch bevor Paula klingeln konnte. „Komm herein“, sagte sie sofort und zog Paula etwas unsanft ins Haus. „Was ist denn los?“, fragte Paula verständnislos. „Ist etwas passiert?“ „Das kann man wohl sagen. Ich habe gleich nachdem du gegangen warst, nach den Sagen über die Feuertänzerinnen gesucht und sieh nur, was ich gefunden habe.“ Sie legte mit einem triumphierenden Grinsen vorsichtig eine Art altes Schulheft vor Paula hin. Paula stutzte und konnte es kaum glauben. Auf dem Umschlag stand in der sauberen, korrekten Schrift, die Paula so gut kannte:
Johanna 8.10.1919 . Paula stieß einen leisen Schrei aus. „Ruth“, sagte sie, „ist das etwa ...“ „Ja“, unterbrach Ruth sie eifrig. „Johannas Tagebuch, das nach Karls Tod beginnt und das all die Zeit unauffindbar war. Ich weiß nicht, wie es nun plötzlich zu mir gekommen ist. Aber jetzt erfahren wir endlich, was damals aus Johanna und ihren beiden Kindern nach Karls Tod auf dem Tobel wurde. Ich frage mich nur, warum es gerade jetzt kommt, es gibt für alles einen Grund und nichts geschieht zufällig!“
Paula umarmte Ruth stürmisch und lachte. „Du bist die Beste. Eines Tages krempeln wir dein ganzes Haus um, wer weiß was wir noch alles finden.“ Auch Ruth lachte, wenn auch noch etwas gezwungen. Der Gedanke, dass es womöglich einen Grund für das plötzliche Auftauchen von Johannas Tagebuch gab, setzte sich wie eine leise bohrende Mahnung in ihr fest und ließ sie nicht mehr los.
Es waren zwei dieser Schulhefte und Paula nahm sie sofort mit nach Hause und wollte noch am selben Abend zu lesen beginnen. Als sie auf ihrem Grundstück ankam, fühlte sie eine eigenartige Beklemmung und die wachsame Aufmerksamkeit ihres Gartens. Es war ein Rascheln und Seufzen rund um Paula und sie sah merkwürdig berührt zu dem riesigen dunklen Rhododendron hinüber, der offenbar das Zentrum all der Vorgänge in Paulas Garten war.
Paula wusste, dass sich stets bei Erfüllung eines Fluches eine Blüte auf dem Rhododendron gezeigt hatte. Dies war im Moment natürlich nicht der Fall, doch die Blätter bewegten sich allesamt, obwohl es vollkommen windstill war. Paula erschien es, als würden sie ihr eifrig zuwinken. Sie vernahm ein zartes Ächzen, wie ein leises Stöhnen und sah sich erschrocken um, konnte aber kein lebendes Wesen entdecken. Erst als sie die riesige alte Buche ansah, die an der Grundstücksgrenze stand, fiel ihr eine Bewegung auf. Die Buche, die man die ‚graue Wächterin des Tobels‘ nannte, schien tief zu atmen. In ihrem mächtigen, silbrigen Stamm war ein flächendeckendes Netz längst vernarbter Wunden von Tätowierungen zu sehen, die aus den Jugendtagen der Buche stammten und deren Schutzkraft sie zur Wächterin machten.
Paula bemerkte, als sie genauer hinsah, hoch oben am Stamm, dass sich die riesigen Augen im Holz weit geöffnet hatten und aufmerksam auf Paula herab sahen. Diese gigantischen, silbrigen Augen, die normalerweise geschlossen und in der Rinde nicht zu erblicken waren, hatte selbst Paula nur selten gesehen. Sie nahm es als Zeichen, dass der Tobel an den Geschehnissen und am Auffinden von Johannas Tagebüchern Anteil nahm und alle Ereignisse mit Interesse verfolgte. Nur kurz währte der Augenkontakt zwischen Paula und der grauen Wächterin, doch diese Augen gaben ihr Kraft und Ermutigung. Als sie sich langsam wieder schlossen und auch der Rhododendron zur Ruhe kam, öffnete Paula beschwichtigt ihre Tür und betrat mit einem Gefühl der Gelassenheit ihr Haus, um Johannas weiteres Schicksal zu erfahren.
~ 2 – Paula – Henrik – Johanna ~
Johanna schrieb: „Es ist der Abend des 8.10.1919 und heute starb mein Mann Karl, der Vater meiner Kinder, durch meinen Willen und die enorme Kraft der Wächter-Buche auf dem Tobel. Heute hat sich durch meinen Entschluss, Karls Leben ein Ende zu setzen, mein Dasein und auch das meiner Familie drastisch und für immer verändert. Unsere Leiden unter seiner Herrschaft sind vorüber. Dieser 8.10.1919 ist der Tag, an dem die riesige, graue Beschützerin des Tobels, die uralte Wächter-Buche sich Karl, meinen Ehemann, mit all ihrer unwiderstehlichen Kraft und Stärke holte und ihn für immer unter sich begrub! Heute ist der Tag, ab dem ich endlich lernen muss, mein Leben und auch das meiner Kinder selbst in die Hand zu nehmen.
Unwillkürlich muss ich daran denken, wie ich am 27.4.1911, meinem 22. Geburtstag den sogenannten ‚Hexentobel‘ erbte. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit knapp zwei Jahren mit Karl verheiratet. Ich hatte eine neun Monate alte Tochter, Agnes und war mit dem zweiten Kind schwanger, meinem Sohn Gregor. Und zum ersten Mal in meiner Ehe widersetzte ich mich meinem Mann. Ich weigerte mich strikt, ihm wie damals üblich, das Grundstück zu überschreiben. Woher ich damals den Mut nahm, ist mir heute unbegreiflich. Damit begann eine sehr schwierige Zeit in unserer Ehe, die nun zunehmend von Gewalt geprägt war. So lange, bis ich voller Verzweiflung, um meine Kinder und auch mich selbst zu schützen, als letzten Ausweg einen tödlichen Fluch gegen meinen gewalttätigen Ehemann aussprach. Einen Fluch, der sich heute grausam und unaufhaltsam in allen Einzelheiten erfüllte.
Karl wurde von der grauen Wächterin, der uralten Buche unter ihren Wurzeln begraben. Ich musste am heutigen Nachmittag voller Entsetzen genau mit ansehen, wie sich mein eigener tödlicher Fluch erfüllt hat. Meinen kleinen Sohn Gregor hielt ich die ganze Zeit fest an mich gepresst. Ich hoffte so sehr, dass der weinende Achtjährige nicht genau gesehen hatte, wie sein Vater unter dem Wurzelstock der mächtigen Buche verschwand.
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