Bereits durch die Lebensgeschichten ihrer Vorgängerinnen, hatte sie einiges über Pflanzen und deren Heilkräfte gelernt. Sie hatte sich vorgenommen, all das besser zu verstehen. Ob sie selbst jemals Patienten behandeln würde, ließ sie momentan noch dahingestellt sein. Die Ausbildung interessierte sie und war fürs erste ihr Ziel, nicht das Eröffnen einer Praxis. Paula hatte nie aufgehört, nach Hinweisen und Geschehnissen zu suchen, die den Tobel und seine besondere Geschichte betrafen. Es war so etwas wie ihr Hobby oder eigentlich eher ihr Lebensinhalt geworden. Neben ihrer Arbeit für die Fern-Uni, für die sie Arbeiten korrigierte, und der neu begonnenen Ausbildung als Heilpraktikerin waren diese Geschichten für sie so etwas Ähnliches wie Ahnenforschung der besonderen Art. Die Frauen, von denen sie erfuhr, waren nicht unbedingt ihre direkten Vorfahren. Manche vielleicht, aber ganz sicher nicht alle. Das Grundstück war auch manchmal an eine nicht verwandte Frau vererbt worden, wenn es keine passende direkte Erbin gab.
Zuweilen gab es auch längere Ruhezeiten, in denen nicht bekannt war, welcher Frau das Grundstück gehörte. Mehrmals hatten sich Frauen sogar direkt entschlossen, den Garten einige Zeit ruhen zu lassen, um ihn nicht der Gefahr auszusetzen, böse zu werden und eigene Ziele zu verfolgen. Die Verbindung einer Hüterin und des Tobels war eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Wurden zu viele Flüche und zu rasch hintereinander aktiviert, bestand die Gefahr, dass das Grundstück sich nicht mehr mit der Hüterin verband, sondern selbst agierte und mit der Zeit völlig außer Kontrolle geriet. Wenn eine Hüterin so etwas bemerkte, dann tat sie gut daran, den Platz einige Jahre oder gar Jahrzehnte zur Ruhe kommen zu lassen. Paula machte es sich mit einem Glas Wein und einem Knabberteller als Balsam für die Seele gemütlich und nahm sich erneut Johannas Tagebuch vor.
Johanna 10.10.1919: „Ich bin nach dem grausamen Tod meines Mannes vor nunmehr zwei Tagen noch immer wie betäubt. Erst jetzt am Abend komme ich dazu meine Erlebnisse aufzuschreiben, um etwas Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Mein kleiner Sohn Gregor, leidet und denkt noch viel an den Unglückstag. Immer wieder schluchzt er laut auf, ich presse ihn dann jedes Mal schmerzhaft fest an mich und meine Gedanken rasen und drehen sich im Kreis. Noch immer bin ich ratlos. Wie soll es nun weiter gehen? Was kann ich tun? Der Tobel hat mir geholfen, mich von meinem gewalttätigen Mann zu befreien. Und nun? Wieder denke ich an Karls Tod und wie ich darauf reagierte. Mühsam stand ich auf, nachdem alles still geworden war, zog meinen kleinen Sohn hoch, dem unablässig die Tränen über das Gesicht strömten, und küsste ihn. Bis hierher hatte der Tobel mir geholfen. Nun musste ich zeigen, dass ich mit dem Geschenk des Grundstücks etwas anfangen konnte. Dass ich würdig war. Ich war entsetzlich müde, aber ich zwang mich tief durchzuatmen, straffte immer wieder meine Schultern und hob den Kopf. Jetzt durfte ich nicht müde sein. Das konnte ich mir nicht leisten. Ich musste den Kampf aufnehmen. Jetzt, da ich alles aufschreibe, kommt es mir noch immer wie ein Traum vor. Doch als ich mit Gregor an der Buche stand, dachte ich: „Jetzt erst recht.“ Mit Gregor und Agnes, die so ruhig und vernünftig war und mir seltsamerweise Halt gab, ging ich ins Haus zurück, wo noch immer das tote Kaninchen auf dem Küchentisch lag, das mein Mann dort hin geworfen hatte. Als ich Gregors erschreckten Blick sah, warf ich ein Küchentuch über das Tier und packte es dann in den Proviantkorb, der noch immer in der Ecke stand.
Leise erklärte ich beiden Kindern, dass wir drei jetzt zusammen in unser Haus nach Uelzen zurückfahren würden. Etwas ungelenk schirrte ich die Pferde an und spannte sie vor den Wagen. Das hatte meist Karl erledigt. Doch die beiden gutmütigen schwarzen Kaltblüter, Wotan und Thor, machten keine Schwierigkeiten und ließen sich von mir problemlos zu unserem Haus in Uelzen zurück lenken. Es war das Haus, das ich mit Karl und den Kindern während meiner Ehe bewohnt hatte und das Karl gehörte. Das Haus, in dem jetzt meine Kinder schlafen und in das Karl niemals zurückkehren wird. Am liebsten würde ich zwar ganz auf dem Tobel bleiben und würde mich einfach vollkommen der Erziehung meiner Kinder und der Beschäftigung mit den Kräutern widmen. Doch die Kinder müssen natürlich weiter in Uelzen zur Schule gehen und der Tobel ist eindeutig ein Frauenhaus.
Das weiß ich ganz genau und ich will meinen kleinen Jungen, den ich gerade vor seinem gewalttätigen Vater beschützt habe, auf keinen Fall den gefährlichen und unberechenbaren Wesen des Gartens am Wehrbrink aussetzen. Bei Agnes habe ich keinerlei Bedenken. Sie hatte ja schon sehr früh ein tiefes und enges Verhältnis zu dem Grundstück mit all seinen pflanzlichen und tierischen Bewohnern entwickelt. Sie hätte sich auf dem Grundstück auf jeden Fall wohl gefühlt und sich wie es ihre Bestimmung ist, darauf vorbereitet, dem Garten eines Tages eine gute Hüterin zu sein.
Aber die Anwesenheit meines Sohnes auf dem Platz kann ich einfach nicht riskieren. Sein Vater liegt dort unter der Buche begraben. Die ganze Zeit während meiner Rückkehr in unser Haus, überlegte ich fieberhaft, wie ich das Verschwinden meines Mannes erklären könnte. Immer wieder sehe ich die Bilder vor mir, wie Karl schreiend unter dem mächtigen Wurzelstock der alten Buche verschwindet. Doch genau diese Bilder muss ich jetzt unbedingt ganz und gar aus meinem Gedächtnis verbannen. Ich habe mir eine Hinhaltetaktik überlegt. Fürs erste werde ich die unwissende Ehefrau spielen, die von den Geschäften ihres Mannes keine Ahnung hat. Diesen Anschein der unterwürfigen Ehefrau beherrsche ich längst perfekt. Karl hat mir diese Rolle über Jahre hinweg äußerst effektiv und schmerzhaft beigebracht. Was kann ich sagen, das wirklich glaubhaft klingt.
Die harten Zeiten haben sich gerade erst etwas gebessert. Der große Krieg, der Weltkrieg, ist zu Ende. Die Menschen schöpfen neue Hoffnung. Karl ist tot, er wird nicht wiederkommen. Was immer ich jetzt entscheide, Karl kann mich nicht mehr dafür bestrafen. Auf keine Art und Weise. Das kommt mir erst jetzt so richtig zu Bewusstsein. Heute Abend werde ich dieses Problem nicht mehr lösen. Ich werde zu Bett gehen, in der Gewissheit, dass mir heute Nacht nichts mehr geschehen kann. Morgen ist ein neuer Tag und vielleicht kommen auch neue Ideen.
Johanna 11.10.19: Die Kinder sind in der Schule. Bisher ist alles wirklich gut verlaufen. Sie haben früher nie mit anderen Kindern über Karls Jähzorn gesprochen und ich hoffe, sie werden auch jetzt über die Vorgänge auf dem Tobel schweigen. Ich glaube ich habe sogar eine Idee. Karl war ja immer außerordentlich geschäftstüchtig. Er hat in letzter Zeit mehrmals davon gesprochen, sofort nach Kriegsende in die Randgebiete des wieder friedlichen Deutschen Reichs zu reisen und dort neue Geschäftsverbindungen zu knüpfen. Dort wird ja jetzt praktisch alles gebraucht.
Karl selbst ist vom Wehrdienst verschont geblieben. Natürlich wegen seiner Verletzungen, die ihm die graue Wächterin, die Buche, damals am 10.Mai 1911 zugefügt hat. Ich weiß es noch wie heute, wie Karl wie ein Irrer auf den Rhododendron einschlug und außer sich schrie, der Garten sollte gerodet werden. Da hat ihm die Buche die Hand gebrochen. Das hat er mir und der Buche nie verziehen. So hat seine damalige Verletzung letztendlich für ihn doch noch Vorteile gehabt. Heute habe ich gehandelt. Ich habe Karls engsten Vertrauten, seinen Prokuristen Josef Stahlburg, zu mir kommen lassen. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und ihm ganz selbstbewusst mitgeteilt, mein Mann hätte mir eine Nachricht hinterlassen, dass er eine eilige Verabredung wahrnehmen müsse. Ich habe es so ruhig gesagt, als wäre das nichts Besonderes.
Bevor er weiter fragen konnte, habe ich ihm mitgeteilt, dass ich mit den Kindern in Suderburg war und dort eigentlich meinen Mann erwartet habe, der aber nicht erschienen ist. Es ist gut, dass es nichts wirklich Ungewöhnliches war, dass Karl plötzliche Reisen antrat, über die er niemanden zuvor informierte. Ich habe schon immer vermutet, dass diese Reisen nicht nur geschäftliche Gründe hatten und damit habe ich wahrscheinlich Recht gehabt. Genau hinterfragt oder Karl darauf angesprochen habe ich natürlich nie. Das wäre mir schlecht bekommen. Karls Jähzorn konnte schrecklich sein. Immer wieder hat er mich auch aus geringen Anlässen brutal geschlagen und verletzt. Mehrmals hat er mir Rippen gebrochen und einmal wohl auch die Nase. Ich weiß es nicht genau, denn ein Arztbesuch nach solchen Attacken war nicht erlaubt. Soweit ich weiß hat auch niemand aus seinem sonstigen Umfeld je direkt Fragen nach seinen spontanen Reisen gestellt. Diese plötzlichen Reisen sind jetzt ein Segen für mich.
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