Paula war stark verunsichert. Henrik war, wie sie durch Zufall erfahren hatte, wieder zurück von seiner Reise. Sie wollte ihn sehen, wollte mit ihm zusammen sein. Sie sehnte sich nach Henrik, doch er meldete sich nicht. Paula wollte ihn nicht anrufen, obwohl sie unter der Situation litt. Sie konnte ihn nicht zu sich einladen, solange sie nicht wusste, ob er schuldig war und ein Besuch bei ihr für ihn unweigerlich tödlich enden musste. Paula nahm schließlich ihren ganzen Mut zusammen. Sie fuhr am Freitagmorgen nach Uelzen und bummelte etwas gequält durch die Einkaufsstraßen. Dann entschloss sie sich eine Latte im Café Mephisto zu trinken, wo sie Henrik schon mehrmals zufällig getroffen hatte. Henrik würde sie durchschauen, falls er da war, da war Paula sicher. Dennoch konnte sie nicht anders. Sie betrat das Café und war enttäuscht. Henriks Lieblingsplatz auf dem blauen Sofa war leer. Wäre er da gewesen, hätte er auf jeden Fall dort gesessen. Zögernd nahm Paula seinen Lieblingsplatz am Fenster ein und bestellte eine Latte. Sie zog ihr Notizbuch heraus und begann zu schreiben. Sie hatte immer Notizen zum Tobel zu machen.
Plötzlich fiel ein Schatten auf das Blatt und Henrik sagte mit seiner schönen Stimme: „Schreibst du einen Fluch für mich?“ Paula schrak auf und ihr Notizbuch samt Stift fielen laut klappernd zu Boden. Henrik hob beides mit einer geschmeidigen Bewegung auf und setzte sich Paula gegenüber. “Bist du schon lange zurück?“, fragte sie mit bebender Stimme und räusperte sich. Henrik lachte nur und wechselte unvermittelt das Thema. „Wolltest du mich finden?“ fragte er leise und sah ihr direkt in die Augen. Paula bekam eine Gänsehaut. Dennoch schüttelte sie trotzig den Kopf und senkte den Blick. „Gewiss nicht“, erwiderte sie patzig. Henrik lachte wieder leise. „Komm schon“, sagte er ruhig und sah sie über den Tisch hinweg mit diesem Blick an, bei dem ihr immer ein Schauer über den Rücken lief. „Lass uns einen Ausflug machen. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Obwohl Paula bei Henriks leisen Worten jeden Widerstand bereits aufgegeben hatte, stimmte sie scheinbar nur zögernd zu. Henrik lachte wieder leise und sagte: „Ich hole dich in“, er sah kurz auf die Uhr, „in zwei Stunden ab, schaffst du das?“ Paula hob entsetzt die Hände und wollte abwehren. Doch Henrik ließ ihr keine Chance. Er schien genau zu wissen, was er wollte und auch, dass sie ihm folgen würde. Paula war auf dem Tobel und sah nervös zur Uhr. Nur noch eine halbe Stunde, bis Henrik sie abholen kam. Sie warf ziemlich wahllos irgendwelche Dinge in ihre Reisetasche. „Henrik holt mich ab!“ Dieser Satz ging ihr unaufhörlich durch den Kopf.
Was würde passieren, wenn er gleich auf das Grundstück kam? Im Radio waren ständig Wetterwarnungen zu hören. Der Moderator sagte gerade: „Das Tiefdruckgebiet BIANCA liegt aktuell bei den Britischen Inseln und bringt mit einer Front im Norden und Westen Deutschlands Sturm, Schneeregen und Schnee.“ Paula wusste nicht, weshalb ihr diese Wetteraussichten so viel Angst machten. Tief „Bianca“ zog also an diesem Freitag, dem 4. März 2016 mit Regen, Sturm und Schneeschauern direkt auf den Norden zu. Paula zitterte und warf noch ein weiteres warmes Kapuzenshirt und eine Jacke in die Tasche. Dann fühlte sie, dass Henrik sich dem Grundstück näherte. Sie empfand die wachsende Erregung der Bäume, der Tiere, der Pflanzen. Sie spürte die Spannung und das Beben des Waldes. Sogar die Luft und die Erde vibrierten.
Paula griff hastig nach ihrer Tasche und trat rasch aus dem Haus. Henrik hielt direkt vor dem Einfahrtstor und stieg aus. Ein heftiger Windstoß, vielleicht ein Vorbote des anziehenden Tiefs „Bianca“ heulte durch die Bäume des Tobels und Henrik sah mit unergründlicher Miene zu den Wipfeln auf. Dann öffnete er durch Knopfdruck die Heckklappe des Porsche Cayenne und sah Paula spöttisch mit hochgezogenen Brauen an. Er hat überhaupt keine Angst, dachte Paula verwirrt. Noch immer jaulte der Wind in den Bäumen und Paula verließ eilig, fast rennend mit ihrer Tasche den Garten. Henrik nahm ihr gelassen lächelnd die Tasche ab und verstaute sie ruhig im Kofferraum. Er lächelte noch immer rätselhaft und Paula war plötzlich überzeugt, dass er sehr genau wusste, was sie so sehr bewegte und was das Grundstück derart erbeben ließ.
Henrik umarmte Paula, während er noch einmal kurz zum Garten hinsah. Dann öffnete er mit einer eleganten Geste die Beifahrertür und Paula stieg mit zitternden Knien ein. „Wo.. ähm, wohin fahren wir?“, fragte Paula mit rauer Stimme und Henrik lachte leise. „Lass dich einfach überraschen“, sagte er nur lächelnd und wollte dann nichts mehr über sein Ziel verraten. Paula saß ganz still und genoss Henriks Nähe. Sie liebte es, seine schönen, schlanken Hände auf dem Lenkrad zu sehen. Doch plötzlich schnappte sie nach Luft. Henrik trug einen Ring, den sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Paula wusste sofort instinktiv, dass es mit dem Ring eine Bewandtnis hatte, dass es nicht irgendein Ring war.
Vielleicht hatte darum ihr Grundstück so überaus stark auf Henrik reagiert. Paula wollte die zärtliche Stimmung in dem Wagen nicht zerstören, darum fragte sie trotz aller Neugier nicht, was es mit dem Ring auf sich hatte. Sie würde es schon noch erfahren. Vorerst war sie zufrieden, neben Henrik zu sitzen und mit ihm zusammen einem unbekannten Ziel entgegen zu fahren, an dem hoffentlich keine Gefahren drohten, außer vielleicht von dem anziehenden Tief. Sie fuhren etwas mehr als eine Stunde. Die letzte halbe Stunde rollten sie nach Norden in Richtung Lauenburg, manchmal sogar am Elbufer entlang. Dann erreichten sie den kleinen Ort Hittbergen und Henrik bog zügig in die hoch über dem Elbufer gelegene Straße, ‚Am Hohen Berge‘, ein. Paula stieß einen kleinen Schrei aus, als Henrik auf das Gelände einer zauberhaften kleinen Jugendstilvilla hoch über dem Elbufer einbog.
Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes. Es war ein ganz reizendes weißes Haus mit tief gezogenen schmalen Fenstern zum Elbufer hin. Über dem fünfeckigen Erker waren ein Balkon und eine verglaste Veranda mit einem tiefen, gemütlichen blau-weißen Sofa vielen Kissen in verschiedenen blau-weiß Tönen. Diese Veranda ging ebenfalls zum Fluss hin mit einem weiten Blick über die Elbauen. „Ein Haus meiner Familie“, erklärte Henrik knapp ohne eine weitere Erklärung zu geben. Es war eine wunderschöne kleine Villa mit seitlicher Freitreppe und einem weitläufigen Garten mit uralten Bäumen. Das Haus wirkte sehr gepflegt. Es musste hier Leute geben, die es in Ordnung hielten, doch Paula sah niemanden. Henrik schloss die massive Holztür mit den schweren Schnitzereien auf und sie betraten das Gebäude, das Paula sofort begeisterte. Es empfing sie mit einer Wärme und einer Atmosphäre von ruhiger Geborgenheit, die Paula tief beeindruckte. Henriks Familie musste sehr begütert sein. Paula blieb zögernd im Eingangsbereich stehen und sah sich um. Henrik zeigte ihr die unteren Räume und führte sie dann in ein Zimmer im oberen Stockwerk, das vermutlich einmal ein Gästezimmer gewesen war. Er stellte ihre Reisetasche ab, küsste sie und sagte leise: „Ich bin gleich wieder da.“
Bereits nach wenigen Minuten holte er Paula wieder ab und führte sie in den Wohnbereich im Erdgeschoss mit Kamin und dem Erker im Türmchen, der Paula schon von außen so begeistert hatte. Im Kamin brannte bereits ein helles Feuer. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein und alles sorgsam vorbereitet haben. Paula fühlte sich in eine andere Welt versetzt, eine helle, freundliche Welt voller Wärme und Sicherheit. Sie vergaß oder wollte vergessen, dass sie Henrik je verdächtigt hatte, am Missbrauch der kleinen Leonie beteiligt gewesen zu sein. Es war ein wundervoller Nachmittag außerhalb der Zeit und abseits aller Probleme, die Paula momentan so sehr bedrückten. Sie hatte noch nie zuvor so wunderbare, harmonische Stunden mit Henrik verbracht. Paula war wie verzaubert. Das Wetter war trübe und etwas neblig und erste Windböen fegten über die Auen. Feine Nebelschleier lagen über dem Strom, der ruhig und sicher wie seit alter Zeit seine Bahn zog. Es war eine so betörende Stimmung, der sich Paula weder entziehen konnte, noch wollte.
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