Nonnengänse zogen in enger Formation über den Fluss und ihre klagenden Rufe klangen weit über das stille Land. Paula hatte sich Henrik noch nie zuvor so nahe gefühlt wie hier, wo sie nicht die Aufregung und das Vibrieren des Tobels fühlte. In dieser harmonischen Vorfrühlingslandschaft, an dem mächtig rauschenden Strom, konnte man fast mühelos zur Ruhe kommen. Sie gingen lange schweigend neben einander auf dem Deich am Flussufer entlang. Ihre Hände waren fest in einander verschlungen und steckten zusammen in Henriks Jackentasche. Paula fühlte sich sicher, wie nie zuvor in ihrem Leben. Henrik begann leise zu erzählen, von seiner Kindheit und dass er hier oft bei seinen Großeltern gewesen war.
Er erzählte von seinem Großvater, der eine wundervolle Sammlung alter Seekarten und golden glänzender Fernrohre besaß und wie sehr er als Kind den Strom und die Geschichten seines Großvaters liebte. Wie glühend er sich gewünscht und erträumt hatte, dem Fluss zu folgen, immer weiter bis hin zu seiner Quelle und auch weiter bis zu seiner Mündung bei Cuxhaven in die Nordsee. Seemann hatte er werden wollen. Den Strom in seiner ganzen Länge befahren. Die ganzen 1091 km von der Quelle im sagenumwobenen Riesengebirge, dem Herrschaftsgebiet des gewaltigen Rübezahl, bis zur Mündung in die Nordsee und dann noch weiter bis auf das unendliche Meer hinaus. Dorthin hatte es ihn gezogen. „Und bist du auf dem Strom gefahren?“, fragte Paula gespannt. „Oh ja, natürlich“, erzählte Henrik träumerisch und sah lächelnd auf den Fluss hinab. „Einige Jahre, ja.“ „Und dann?“, fragte Paula neugierig. „Dann habe ich ein Gelübde erfüllt und bin das geworden, was ich noch heute bin“, sagte Henrik knapp. Einen Moment war es still.
Dann begann er leise zu erzählen, von seinen Jahren auf dem großen Strom und dem einen Jahr, das er danach noch zur See gefahren war, so wie er sich das als Junge erträumt hatte. Paula lauschte seiner schönen Stimme und sah die wilde Sehnsucht in seinen Augen, die dem Verlauf des Flusses und dem schwer beladenen, tief im Wasser liegenden Lastkahn folgten, der gerade ruhig seine Bahn auf dem grauen Wasser zog, bis er allmählich im Nebel verschwand und nicht mehr zu sehen war. Schweigend sahen sie dem silbrigen Reiher nach, der laut rufend aus den Flussauen aufstieg und sich nach einer Runde über dem Fluss elegant wieder am Ufer niederließ. Die Nähe zwischen ihnen wurde noch greifbarer, als sie in das schöne, warme Haus zurückkehrten. Henrik kochte mit sicheren Bewegungen Kaffee, zeigte ihr wo das Geschirr war und Paula deckte den Tisch in dem hübschen Erker mit den tief gezogenen Fenstern, der zur Elbe hinaus ging. Sie saßen dicht zusammen, aneinander gelehnt, tranken Kaffee, naschten Kekse und sahen schweigend auf den Fluss hinab.
Henrik entzündete das Feuer im Kamin neu, das während ihres Spaziergangs erloschen war. Paula stellte Kerzen auf und Henrik ließ leise Musik erklingen. Es war eine träumerische Stimmung, abseits aller Realität, die nicht schöner hätte sein können. Henrik fragte Paula leise nach ihrer Kindheit. Er hörte ihr ernsthaft und interessiert zu, als sie von ihrer überaus behüteten Jugend bei einer sehr ängstlichen, allein erziehenden Mutter erzählte, die stets bemüht war, ihr kleines Mädchen vor allen Widrigkeiten zu schützen. Paula sprach nicht gerne darüber. Henrik bemerkte ihr Unbehagen, nahm sie in die Arme und begann leise von seinen Fahrten auf dem Fluss zu reden, während Paula mit angezogenen Beinen an seiner Brust lehnte und das Vibrieren der dunklen Stimme in seinem muskulösen Brustkorb wahrnahm.
Als Paula Henrik noch einmal nach seinem Jahr auf See fragte, erzählte er leidenschaftlich von sich und seinen Reisen. Und als dann allmählich die Dunkelheit den Blick auf den großen Fluss verschlang, liebten sie sich auf der großzügigen Sofalandschaft und dann noch einmal in dem mächtigen, massiven Bett, das so ausladend und sicher aussah, als könnte nichts, auch kein noch so heftiger Sturm es erschüttern, als wäre es für viele Generationen gebaut worden. Zum ersten Mal seit Paula Henrik kannte, rückte er danach nicht von ihr ab, sondern hielt sie fest in den Armen, den Mund zärtlich in ihrem Haar vergraben. Es war eine wundervolle und zärtliche Nacht mit diesem so ganz anderen Henrik. Offenbar war es der Henrik, der hier wieder zu dem Jungen mit den großen Träumen von der Seefahrt wurde, jung, offen und begeisterungsfähig. Paula war wie eingesponnen in dieses zärtliche Glück. Sie dachte in diesen Stunden nicht mehr an Strafen und Flüche. Dieses alte Haus an dem großen Fluss strahlte Wärme aus, Geborgenheit und Glück. Träume waren hier geboren und gelebt worden.
Paula fragte Henrik am nächsten Morgen beim Frühstück danach, wer hier im Haus gelebt hatte. Henrik lachte ein bisschen wehmütig. „Es war das Haus der Familie meiner Mutter. Eine alte Seefahrerfamilie aus Hitzacker“, erklärte er. „Verwegene, kühne Seeleute mit leuchtend blauen Augen im gebräunten Gesicht, die weder Tod noch“, er zögerte kurz, „noch die See und die Stürme fürchteten“, fuhr er dann fort. Paula nippte an ihrem Kaffee und sagte fragend: „Und natürlich gibt es wunderbare Geschichten ihrer Abenteuer auf See.“ Henrik nickte ernsthaft. „Gewiss“, bekräftigte er gewichtig und nickte noch einmal. „Erzählst du sie mir?“, fragte Paula und sah Henrik lächelnd an. „Vielleicht“, lachte Henrik und drückte sie zärtlich an sich. Paula kuschelte sich gemütlich an ihn und sagte gespannt: „Jetzt, ich möchte jetzt gleich eine Geschichte hören, bitte.“
Henrik grinste, sah nachdenklich auf den grauen Strom hinaus und begann geheimnisvoll: „Mein Ur-Ur-Großvater Klaas, aus der Familie meiner Mutter, das war ein Seemann aus Hitzacker, Ostindienfahrer, soll angeblich, wie man sich erzählt, sogar einen echten Klabauter mit in das Haus hier gebracht haben.
Der alte Klaas war nämlich zufällig, wie er erzählte, in der Nähe, als der Klabauter das Schiff des ‚fliegenden Holländers‘ während eines verheerenden Sturmes für immer verließ und damit natürlich den unweigerlichen Untergang des Schiffes und seiner Mannschaft besiegelte.
Mein Urahn erzählte: Der Klabauter, der sich niemals sehen lässt, solange er das Schiff behütet, sondern erst dann, wenn er das Schiff verlässt und dem Untergang weiht, soll an diesem Tag hoch oben in den Rahen des todgeweihten Schiffes sichtbar geworden sein. Hell und feurig wie Elmsfeuer soll er furchterregend dort oben gesessen haben. Und furchtbar soll seine gewaltige Stimme sich über das Brausen des Sturmes und das Donnern der Wellen erhoben haben. „Van der Decken“, das war der Name des Holländers, soll er mit donnernder Stimme gerufen haben, „dein unheilvoller Wunsch soll erfüllt werden, segeln sollst du ruhelos über die Meere solange ‚der Wind weht und der Hahn kräht‘. So verlasse ich nun dieses Schiff und überlasse dich für alle Zeiten deinem Schicksal.“ Paula hatte sich längst aufgesetzt und lauschte Henrik gespannt und aufmerksam. „Und dann?“, fragte sie drängend, als Henrik nichts mehr sagte. „Nun“, fuhr Henrik fort, „der Klabauter verstummte, wie mein Vorfahr Klaas später erzählte, und das Leuchten des geheimnisvollen, flackernden Feuers sei noch einmal hell über alle Rahen aufgestrahlt und dann für immer erloschen.
Mein Ahn Klaas auf seinem eigenen Schiff soll unmittelbar darauf das Gefühl gehabt haben, nicht mehr alleine mit seiner Mannschaft zu sein. Eine starke Präsenz war an Bord, die er zuvor noch nie gefühlt hatte. Das war der Klabauter, der Van der Deckens Schiff aufgegeben hatte und nun ab diesem Tag mit meinem Ahn segelte. Ab jenem Tag soll ein geheimnisvoller Segen auf allem gelegen haben, was der alte Klaas begann. So hat es mir mein Großvater erzählt und so hatte er es von seinem Großvater gehört, dessen Großvater der alte Klaas selbst war.
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