Nun sind wir schon vier Tage wieder in Uelzen. Noch immer ist alles ruhig. Ich habe etwas Zeit gewonnen und ich werde sie nutzen. Ich habe während meiner Ehe mit Karl nie besonderen Ehrgeiz entwickelt. So etwas war in unserer Ehe nicht üblich. In der Ehe mit Karl habe ich gelernt, mich in die Gegebenheiten zu fügen. Jetzt geht das natürlich nicht mehr. Ich muss handeln. Ich fürchte so sehr, dass mein kleiner Gregor tatsächlich traumatisiert ist, von dem was seinem Vater zugestoßen ist. Gregor ist rein äußerlich noch immer der übersensible kleine Junge, den sein Vater stets für seine vermeintliche Schwäche verachtet und lauthals verspottet hat. Aber etwas ist seit dem Nachmittag, an dem sein Vater starb anders. Etwas Fremdes ist plötzlich an meinem kleinen Jungen, etwas das mir Angst macht.
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Paula war voller Mitleid mit Johanna und sie konnte deren Handeln und die Befreiung von ihrem gewalttätigen Mann nur zu gut verstehen. Sie hatte einmal in der Nähe des riesigen Rhododendrons im Garten eine dunkle, ernste Gestalt stehen sehen. Streng und fast furchteinflößend war sie Paula damals vorgekommen, wie sie in ihrem hochgeschlossenen dunklen Kleid ruhig dort im Schatten stand. Sie war keine wirklich hübsche Frau gewesen mit ihren kantigen strengen Gesichtszügen und der hakenförmigen schmalen Nase. Nun kannte Paula den Grund für die gebogene Nase und bedauerte Johanna aufrichtig. Paula schüttelte mitleidig den Kopf. In Bezug auf ihren kleinen Jungen hatte Johanna sich wohl selbst etwas vorgemacht. Zumindest in der ersten Zeit. Später musste sie mehr gewusst haben.
Zwischen den Seiten von Johannas Tagebuch lagen lose einige stark zerknitterte Blätter, wohl aus Schulheften herausgerissen, mit krakeliger Kinderschrift und offenbar tränenverschmiert, die aus dem Tagebuch heraus zu Boden flatterten. Nachdenklich las Paula, was da stand: „Papa ist tot!!!!“ Darunter fast unleserlich, verwischt und wellig: „Papa ist unter der Buche!“ Paula schluckte schmerzhaft. Ihr Mitleid mit dem kleinen Jungen war fast unerträglich. Auf einem wohl ursprünglich völlig zerknüllten, halb zerrissenen und dann sorgsam wieder glattgestrichenen Zettel stand: „Mama weiß es! Agni auch!“ Und darunter winzig klein, krakelig, fast unleserlich, als hätte der Schreiber sich nicht getraut, es in normaler Schrift zu schreiben:
„Mama hat das gemacht! Mama und der Tobel!“ Paula wischte eine Träne ab. Sie konnte fast körperlich die unerträgliche Qual des kleinen Jungen fühlen, der den gewaltsamen Tod, seines Vaters, mit angesehen hatte, des Mannes, den er zwar fürchtete, aber insgeheim fast gegen seinen Willen offenbar auch zutiefst bewunderte. Und augenscheinlich hatte er irgendwie sogar seine Mutter und vielleicht sogar auch seine Schwester, aber ganz gewiss den Tobel mit dem Tod des Vaters in Verbindung gebracht. Weshalb und wie das geschehen sein sollte, hatte er wohl selbst nicht genau gewusst. Doch offensichtlich war Gregor hin und her gerissen gewesen. Paula empfand tiefes Mitleid mit dem Achtjährigen, der so einer entsetzlichen Qual ausgesetzt gewesen war. Der Vater hatte ihn als Feigling und Schwächling, als Memme beschimpft.
Er hatte ihn gestoßen und geschlagen. Johanna hatte in ihrem Tagebuch solche Szenen mehrfach erwähnt. Seine Mutter hatte den kleinen Gregor stets beschützt, getröstet und sein empfindsames Wesen gefördert. Doch heimlich hatte er anscheinend, zwar widerwillig, doch immer stärker den robusten, jähzornigen Vater bewundert und wäre, obwohl es nicht seinem Wesen entsprach, gerne so hart und stark gewesen wie er. Was diese Zeilen für Johanna bedeutet haben mussten, die sie offensichtlich gefunden, geglättet und dann in ihrem Tagebuch aufbewahrt hatte, konnte Paula nur schaudernd vermuten. Sie legte seufzend die tränenverschmierten Zettel wieder zwischen die Seiten von Johannas Tagebuch, strich noch einmal glättend darüber und las weiter.
Sie wollte nun unbedingt wissen, was aus dem kleinen Jungen geworden war. Gregor, überlegte Paula angestrengt. Hatte sie je von ihm gehört? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber Paula hatte doch eine Idee. Johannas Zeit lag ja noch gar nicht so weit zurück. Vielleicht konnte sie mit Ruths Hilfe die weitere Spur Johannas und ihrer Kinder Agnes und Gregor im Dorfleben herausfinden. Die Ängste Johannas konnte Paula gut nachvollziehen. Als sie das Tagebuch weglegte und ins Bad ging, stellte Paula überrascht fest, dass sie an diesem Abend, an dem sie sich so sehr mit Johannas Schicksal beschäftigte, tatsächlich weniger unter Durst gelitten hatte und einfach abgelenkt gewesen war. Vielleicht war die strikte Ablenkung doch ein Mittel, mit den Folgen des Fluches fertig zu werden und ihn endlich loszulassen.
~ 3 - Michael – Paula - Henrik ~
Michael Gabler fühlte sich schon seit Tagen mies. Er hatte den Anruf erhalten, den er bereits seit geraumer Zeit voller Grauen erwartete. Dieser gefürchtete Anruf, der wieder einmal eine Leistung von ihm einforderte, die ihm längst zu einer erdrückenden Last geworden war und ihn unvorstellbar ängstigte. Er hatte wieder vergeblich versucht sich herauszureden, Zeit zu gewinnen. Er graute sich täglich mehr vor dem was er wieder einmal tun sollte, doch es gab kein Entrinnen. Das was ihm bevorstand, konnte er höchstens etwas hinauszögern. Verhindern konnte er es nicht. Seine Schulden, von denen seine Frau Kathrin nichts ahnte, waren allmählich erdrückend geworden.
Das Haus und die Gärtnerei mit allem Land waren längst vollständig verpfändet. Selbst wenn er verkaufte, konnte er seine Schulden damit nicht tilgen. Michael wusste nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Er war vollkommen in der Hand der Leute, die ihn benutzten. Sie ließen ihn nur noch so lange die Gärtnerei weiter betreiben, wie er ihren perversen Wünschen nachkam. Michael wusste, dass er irgendwann für alles würde bezahlen müssen. Als er Paula auf dem Weg zu Ruth an der Gärtnerei vorübergehen sah, wurde ihm übel. Er hustete krampfhaft und trank rasch ein großes Glas Wasser. Schon seit Tagen plagte ihn ein unerträglicher, nie dagewesener Durst, den er auch durch große Mengen Wasser kaum stillen konnte.
In acht Tagen war Neumond, die Zeit die er mehr als alles andere zu fürchten gelernt hatte. Er musste sich in tiefer Nacht auf den feindlichen und unheimlichen Hexentobel schleichen und die benötigten Kräuter holen. Kräuter, die nur dort so wuchsen, wie er sie brauchte. Doch auf dem Grundstück wohnte jetzt die neue Hexe, wie er sie nannte und seitdem war es noch viel gefährlicher geworden, sich die benötigten Kräuter zu besorgen. Michael fürchtete sich unsäglich, in den nun wieder bewohnten Garten zu schleichen und die erforderlichen Kräuter zu ernten. Doch er hatte keine Wahl. Vor dem was danach kam fürchtete er sich allerdings mindestens genau so sehr. Er würde wieder krank werden. Das war der Preis, den er jedes Mal zu bezahlen hatte.
Und er musste die kleine Leonie mit der Salbe, die er aus den Kräutern herstellte, betäuben und gefügig machen. Dann hatte er sie in ein geheimes Haus zu bringen und die Nacht über dem Mann, oder den Männern, die in diesem Haus waren, zu überlassen. Das schlimmste aber war, Leonie am anderen Morgen wieder aus dem dann leeren Haus abzuholen in dem Zustand, in dem sie sich dann immer befand. Michael schauderte. Doch er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Auch seine Frau musste er betäuben, damit sie nicht merkte, wenn er Leonie wegbrachte. Michael schüttelte sich und sah Paula hinterher, die am Neuen Friedhof vorüber ging und vermutlich wieder einmal Ruth Hellwig besuchen wollte. Auch bei Ruth, die Michael seit langem kannte, hatte er neuerdings ein ungutes Gefühl. Er dachte manchmal, dass Ruth genauso wie Paula ihn beobachtete, ja regelrecht belauerte und dass die beiden Frauen seiner Kathrin unangenehm viel Aufmerksamkeit schenkten.
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