Ruth nickte nachdenklich und entgegnete „Oh ja“, das solltest du wirklich. „Pflanzen haben einen starken Willen und sind oft sehr zielgerichtet.“ „Aber was haben sie vor?“ fragte Paula verwirrt. „Sie alle wandern eindeutig zum Wehrkamp. Der ist doch unbewohnt. Weißt du denn jetzt, wem das Grundstück gehört?“ „Nein, Frau Mechler hat sich noch nicht gemeldet. Ich werde mich gleich morgen nochmal darum kümmern“, sagte Ruth entschlossen und schob energisch ihr Kinn vor. Paula konnte es förmlich vor sich sehen und grinste. Sie vermutete, dass sie spätestens am nächsten Tag wissen würde, wem der Wehrkamp gehörte. Paula war mittlerweile doch ziemlich verwirrt von den Vorgängen auf dem Tobel und dem Wehrkamp, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit für diese Vorgänge hatte, denn noch immer war sie ausreichend mit dem Fluch beschäftigt, den sie für Michael angefertigt hatte, und der noch immer unerfüllt war. Und nun bereitete der Tobel offensichtlich bereits eine neue Aufgabe für sie vor. Paula hatte den tödlichen Fluch für Michael natürlich nicht leichtfertig erstellt und aktiviert.
Zusammen mit ihrer Freundin Ruth hatte Paula nach einem eher zufällig aufgekommenen Verdacht Nachforschungen angestellt und mit viel Spürsinn herausgefunden, dass die elfjährige Leonie, die Tochter von Michaels Frau Kathrin mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde. Paula hatte trotz der erdrückenden Beweise einige Zeit quälende Zweifel gehabt, ob sie einen Mann wie Michael, den sie kaum kannte, mit einem solchen Fluch belegen durfte. Doch ein Teil des bindenden Paktes mit dem Grundstück „Hexentobel“, den sie bei Antritt des Erbes unterschrieben hatte, forderte die Erfüllung einer ihr gestellten Aufgabe. Es hatte eigentlich kaum einen Zweifel daran gegeben, dass es Paulas Bestimmung war, den Fluch anzufertigen, der Michael Gabler für seine Taten bestrafen würde. Paula hatte damals immer wieder gezögert und war vor der Aufgabe zurück geschreckt. Erst als die Schuld Michaels zweifelsfrei feststand und sie sich durch Bildmaterial der übelsten Sorte eindeutig von seiner Täterschaft überzeugen konnte, hatte sie die nötige Wut und auch den Mut aufgebracht und in einer langen Nacht wie in Trance den tödlichen Fluch geschrieben, der seither auf Michael wartete und ihm bei seinem nächsten Besuch auf dem Tobel zum todbringenden Verhängnis werden würde. Paula versuchte diese belastenden Vorgänge rund um den Fluch zu verdrängen, so gut es ging, und doch fürchtete sie sich unsäglich vor der tatsächlichen Erfüllung ihres Fluches. Und nun begann auch noch der Tobel sich auszudehnen und sie hatte keine Ahnung weshalb. Nur dass es einen zwingenden Grund dafür geben musste, das war ihr inzwischen klar geworden. Als Paula am nächsten Tag wieder bei Ruth vorbei schaute, sah sie sofort dass ihre Freundin etwas in Erfahrung gebracht hatte. „Der Wehrkamp gehört Friederike Bornhoff“, erklärte Ruth so bestimmt, als müsste Paula sofort ganz genau wissen, wer das war. „Allerdings kümmert sie sich nicht wirklich darum“, fuhr Ruth energisch fort.
„So“, sagte Paula erstaunt, „das Grundstück sieht aber eigentlich nicht verwahrlost aus.“ „Das glaube ich gerne“, lachte Ruth. „Friederike ist eine überaus wichtige Stütze der Uelzener Gesellschaft. Rechtsanwaltsgattin, deren Ehemann auch ein aufstrebender Politiker mit exzellenten Zukunftschancen ist. Natürlich lässt sie das Grundstück pflegen.“ Ruth imitierte perfekt einen gekonnt hoheitsvollen Gesichtsausdruck und sah Paula unter halbgeschlossenen Lidern herablassend an. Paula lachte. Dann sagte sie mit gekrauster Stirn ernst werdend: „Da stimmt trotzdem etwas nicht. Der Tobel hat den Wehrkamp quasi annektiert. Dort tut sich etwas. Ich spüre genau, dass etwas sich stetig verändert, dass das ganze Grundstück aufmerksam und angespannt ist, als warte es auf etwas.
Bist du ganz sicher, dass das Grundstück wirklich noch immer Friederike gehört, vielleicht hat sie es ja verkauft.“ „Das glaube ich nicht“, murmelte Ruth nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Aber ich werde das trotzdem nochmal klären.“ „Ja bitte, das solltest du unbedingt“, bat Paula bestimmt. Als Ruth nach einer Stunde nochmals zurückrief versicherte sie Paula, dass laut den Angaben Frau Mechlers, der Pastoren-Gattin, das Grundstück ganz bestimmt nach wie vor der rundum glücklichen Friederike Bornhoff gehörte.
„Etwas stimmt da trotzdem nicht“, behauptete Paula starrköpfig. „Nach aller Erfahrung und allem was ich weiß, würde ich sagen, der Tobel hilft dem Wehrkamp, sich auf einen Einsatz vorzubereiten. Was ist diese Friederike denn für ein Mensch, kennst du sie persönlich?“ „Ja, doch schon“, antwortete Ruth gedehnt, „von früher kenne ich sie, noch aus der Zeit ihrer ersten Ehe. Der Wehrkamp hat ihrer Familie gehört, soweit ich weiß. Friederike hat sich nie besonders darum gekümmert. Sie hat ein riesiges Grundstück drüben in Hösseringen geerbt. Auch aus Familienbesitz. Dort lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, der wesentlich jünger ist. Ihr erster Mann war ein ziemlich bekannter Anwalt hier in der Gegend und der zweite Ehemann war einer seiner Angestellten. Sie sind kinderlos und gesellschaftlich sehr aktiv. Das war es auch schon, was ich über sie weiß“, setzte Ruth nachdenklich hinzu, während sie überlegte, ob sie noch mehr über Friederike wusste.
„Hm“, sagte Paula nachdenklich. „Passt eigentlich überhaupt nicht zum Wehrkamp.“ Ruth nickte. „Ich werde mal sehen, was ich noch rausbekommen kann“, bot sie rasch an. Paula kniff skeptisch die Lippen zusammen. Sie fühlte genau, dass auf dem Tobel etwas vorging oder vorbereitet wurde, das weit in den Wehrkamp hineinreichte. Es war, als tuschelten die Bäume und Sträucher hinter ihrem Rücken wie Kinder, die kichernd Geheimnisse austauschen. Paula überdachte noch einmal die Infos, die sie von Ruth bekommen hatte. Nichts passte mit ihren Beobachtungen zusammen. Friederike Bornhoff, eine strahlende Gesellschaftsdame, zwar nicht jung, doch selbstsicher und vermögend, die ein großes Haus führte. Wie sollte das dazu passen, dass der Tobel und der Wehrkamp sich anscheinend vorbereiteten einer tief verzweifelten Frau zu helfen, die in großen Schwierigkeiten war. Paula machte sich seufzend einige Notizen und legte nach kurzem Zögern zuhause eine Akte Friederike Bornhoff an. Sie war sicher, sie wusste es einfach, dass es etwas gab, das diese Akte mit Leben füllen würde, eine Tochter oder Nichte vielleicht, die Hilfe benötigte, dachte sie nachdenklich.
Zur selben Zeit , als Ruth und Paula über sie sprachen und überlegten, ob sie eventuell Hilfe benötigte, saß Friederike Bornhoff grübelnd über dem Tagebuch, das sie seit einiger Zeit führte, genau genommen, seitdem ihr Leben sich unerwartet so sehr verändert hatte. Oder anders gesagt, seitdem sie so unglücklich war. Alles was Ruth über sie erzählt hatte, stimmte, oder es hatte bis vor einiger Zeit gestimmt. Seitdem war es mit Friederike Stufe für Stufe unaufhaltsam bergab gegangen, ohne dass ihre Umgebung bisher etwas davon mitbekommen hatte. Einige Zeit hatte Friederike noch gehofft, den Fall aufhalten oder verhindern zu können. Doch ihr Abstieg ins Unglück begann häppchenweise, es war kein plötzlicher Sturz in den Abgrund. Stattdessen war immer die Hoffnung da, sich wieder zu fangen und den Aufstieg wieder beginnen zu können. Immer wieder diese Hoffnung und jedes Mal danach unweigerlich die Zerstörung dieser Aussicht und gleich darauf ein weiterer Sturz. Wieder nicht bis ganz hinab, sondern durchaus noch im Hoffnungsbereich und so immer weiter. Wo würde dieser Abstieg wohl enden, fragte Friederike sich, seitdem sie sich endlich selbst eingestanden hatte, dass es ein Abstieg war. Würde er überhaupt enden? Oder gab es irgendwann einen finalen Sturz? Wie konnte der aussehen? Der Tod? Nun hör aber auf. Sei nicht so melodramatisch, rief Rieke sich energisch zur Ordnung. Doch im Moment gab es wenig Grund zur Freude. Obwohl Rieke sich eigentlich vorgenommen hatte, das nicht zu tun, stand sie doch auf und holte sich trotzig einen Drink.
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