„Wie blind bin ich eigentlich gewesen, dachte Paula entsetzt. Rasch ging sie noch einmal über die Brücke, dann an den Feldern entlang und an der Gärtnerei vorüber, in der noch immer Michael Gabler mit seiner Frau Kathrin und der elfjährigen Leonie wohnte. Zu Leonies Schutz hatte Paula den Fluch gegen deren Stiefvater Michael ausgesprochen. Immer wenn Paula an sie dachte, fühlte sie fast so etwas wie Zärtlichkeit für dieses Kind und auch den Wunsch, Leonie zu schützen.
Leonie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen. Sie war zierlich und hatte leuchtend blaue Augen, die durch lange, dunkle Wimpern ausdrucksvoll betont wurden. Ihr Lächeln war so unwiderstehlich, dass man mit lächeln musste, ob man wollte oder nicht. Die dunkelblonden Haare mit den sonnenhellen Strähnen fielen seidig und leicht gewellt bis über die Schultern. Meist hatte sie die seitlichen Strähnen geflochten oder trug eine Spange, um die Haare aus dem Gesicht herauszuhalten. Paula hatte Leonie sprachlos angestarrt, als sie das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Doch da sie inzwischen ja von Leonies dunklem Schicksal wusste, sah Paula die seltene Schönheit des Mädchens nun mit sehr zwiespältigen Gefühlen. Aufatmend klingelte Paula bei Ruth, die sofort öffnete, als habe sie ihr Kommen bereits erwartet. „Was ist los?“, fragte Ruth sofort und Paula streifte rasch ihre durchnässte Jacke ab und hängte sie an die winzige Garderobe in dem schmalen Flur. Bewundernd glitten ihre Blicke über die wunderschönen honigfarbenen Holzdielen und die als Rhombus dazwischen eingelassenen blau-weißen Fliesen.
Rasch zog sie nach einem missbilligenden Blick Ruths ihre schmutzigen Schuhe aus und stellte sie ordentlich nebeneinander auf die Matte, die unter der Garderobe lag. Dann schlüpfte sie ungeduldig in die Pantoffeln, die bei Ruth immer für sie bereit standen. Ruth hatte ihren Lehrerinnen-Blick aufgesetzt und es war das Beste diese Dinge rasch hinter sich zu bringen. “Also was gibt es?“, fragte Ruth noch einmal, als Paula endlich in dem bequemen Sessel saß, den sie stets bevorzugte.
Paula beugte sich nervös vor und sagte mit zitternder Stimme: „Der Tobel breitet sich weiter aus. Es muss schon länger so sein. So etwas passiert doch nicht von heute auf morgen.“ „Ja“, nickte Ruth, die nicht sonderlich überrascht schien. „Natürlich ist das so. Die Pflanzen und ihre Wurzeln wachsen nun einmal. Und der Einfluss einer Pflanze erstreckt sich über ihr gesamtes Wurzelgebiet und den ganzen Raum, den ihre Blätter oder Zweige überdecken. Bei Bäumen sogar soweit der Schatten reicht. Das weißt du doch“, setzte Ruth belehrend hinzu und sah Paula über den Rand der runden Brillengläser hinweg streng an. „Ja, sicher“, murmelte Paula, „ja natürlich, aber, ich habe nicht gedacht, dass sie über die Grundstücksgrenzen hinaus…“, Paula zögerte kurz, dann setzte sie nachdenklich hinzu: „Ich weiß, es ist merkwürdig“, sie dachte einen Moment nach, „als würde er in aller Stille Land erobern“, setzte Paula dann hinzu. „Ich weiß nicht ganz genau wie weit das geht. Auf der einen Seite auf alle Fälle bis zur Hardau hinab, da kann ich es noch deutlich spüren“, sagte sie und verstummte gedankenvoll. Paula war ein bisschen enttäuscht. Sie hatte gedacht, mit einer wichtigen Nachricht zu kommen und nun nahm Ruth die Botschaft so gelassen und selbstverständlich auf. „Wie stark spürbar ist das denn und wie weit reicht es?“, fragte Ruth nun doch und sah Paula nachdenklich an. Paula holte tief Luft. „Sehr stark ist es am direkten Nachbargrundstück, sag mal, wem gehört eigentlich das Grundstück neben dem Tobel, du weißt schon, das mit der hohen Hecke, ich habe dort noch niemals jemanden gesehen.“ Ruth war alarmiert.“Ich weiß es nicht, aber das kann ich sicher herausfinden“, sagte sie grübelnd.
„Ich nehme stark an, dass es einer Frau gehört“, sagte Ruth leise, konnte diese Annahme aber nicht begründen. „Ich werde mal die Frau von Pastor Mechler fragen, die weiß das sicher.“ „Also“, fuhr Paula mit einem kurzen Nicken fort, „kann die Eigentümerin auch gar nicht fühlen was dort vor sich geht.“ „Ja“, stimmte Ruth zögernd zu, „aber das wird sich ändern, glaube mir. Du solltest diese Ausbreitung nicht auf sich beruhen lassen. Nur du kannst das machen. Du fühlst es am ehesten. Du gehst nach allen Richtungen um dein Grundstück und erspürst ganz genau wie weit diese Ausbreitung reicht und wie stark sie ist. Bitte mach es so schnell wie möglich.“ Paula nickte zögernd und blickte verdrießlich zu dem Niesel hinaus, der unaufhörlich über die Scheiben des kleinen Häuschens am Katzensteg perlte. „Ruf mich heute Nachmittag an oder komm wieder her, dann weiß ich sicher mehr“, sagte Ruth entschlossen und ihr Ton duldete keinen Widerspruch.
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Paula versuchte also, trotz des unablässig fallenden kalten Nieselregens noch einmal genauer herauszufinden, wie weit diese Ausdehnung ihres Grundstücks schon reichte. Paula, die tatsächlich auch bei intensivem Nachdenken sicher war, noch nie zuvor Personen auf dem Grundstück bemerkt zu haben, war gespannt, was Ruth in Erfahrung bringen würde. Abends rief Ruth an und berichtete etwas verärgert, dass auch die Frau des Pastors, die sonst über alles was in und um Suderburg geschah, genau Bescheid wusste, erst Erkundigungen einziehen wollte. Ruth schwieg einen Moment und dachte angestrengt nach. Dann sagte sie: „Vielleicht solltest du eine Landkarte mit Straßen und Wanderwegen nehmen und alles genau einzeichnen was dir auffällt, ich meine damit die Ausdehnung und die Bewegungen des Tobels.“ Paula stimmte sofort zu. „Natürlich, sagte sie, ich habe schon mal damit begonnen, die Bewegungen und Wanderungen der Pflanzen aufzuzeichnen. Ich habe auch Fotos gemacht, aber das war anscheinend keine so gute Idee. Alle Pflanzen haben sich sofort von mir abgewandt und mir sozusagen die Stachel gezeigt.“
„Ja, dein Garten weiß genau was er will“, bemerkte Ruth mit ihrem für solche Aussagen üblichen schrägen Lächeln, das Paula, direkt vor sich zu sehen meinte. Paula zeichnete also noch am selben Abend angestrengt und sorgfältig einen Grundriss ihres Gartens und übertrug ihn maßstabgetreu auf Millimeterpapier. Sie zeichnete die Pflanzen ein, alle Pflanzen und ihre Wanderungen, soweit sie dokumentiert waren. Es war verblüffend. Paula hatte den Gartenplan an der Wand neben ihrem Schreibtisch angebracht und zeichnete Kreuze für all ihre schriftlichen Aufzeichnungen ein. Auf diese Weise wurden die Wanderungen der Pflanzen deutlich sichtbar. Mehrere Pflanzen und zwar in erster Linie die gefährlichsten Giftpflanzen wie Digitalis, Eisenhut, Tollkirsche und schwarzes Bilsenkraut bildeten offenbar in letzter Zeit kräftige Ableger aus, die sich alle obwohl von verschiedenen Standorten ausgehend, langsam aber unaufhörlich auf ihr Nachbargrundstück zu bewegten.
Aber nicht nur die Gifte sandten Ableger, auch Heilpflanzen wie Johanniskraut und die sanfte Kamille machten sich scheinbar allesamt auf den Weg dorthin. Paula war fasziniert. „Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie ungläubig. Sie begann Fähnchen zu setzen und mit Schnüren die täglichen Strecken zu markieren. Keine Frage, der Tobel schickte Gift- und Heilpflanzen auf den Weg zum Wehrkamp, und zwar in beeindruckendem Tempo. Als sie aus dem Fenster sah, stellte sie missmutig fest, dass der Nieselregen mittlerweile in Schneegriesel übergegangen war. Da würden wohl in den nächsten Tagen keine weiteren Pflanzenbeobachtungen möglich sein. Paula dachte, dass auch der Vorschlag von Ruth ziemlich interessant war. Vielleicht sollte sie die Ausdehnung wirklich auch noch in eine Wanderkarte übertragen. Als sie mit Ruth telefonierte, erzählte sie: Ich habe bisher Millimeter-Papier und Fähnchen benützt. Die Pflanzen wandern rasch. Viel schneller, als ich mir das jemals hätte vorstellen können. Ich werde die Bewegungen auch noch auf eine Wanderkarte übertragen.
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