Gleich darauf brach sie eine weitere Regel, die sie selbst aufgestellt hatte und blätterte in ihrem Tagebuch zurück zum Anfang, um noch einmal die einzelnen Stationen ihres Niedergangs nachzulesen. Der Februar war mild, nass und stürmisch und nach einen Blick auf die Fenster, über die der Regen perlte, fand Friederike, dass es genau richtig war, um so eine Rückschau zu halten. Rieke Bornhoff war tatsächlich schon einige Zeit alles andere als glücklich. Doch davon ahnte bisher noch niemand, außer ihr selbst, etwas. Oder besser gesagt. Außer ihr selbst, dem Wehrkamp und natürlich dem Tobel. Sie hatte das Gefühl, dass das Leben ihr unaufhaltsam aus den Händen glitt. Dass sie nur noch Zuschauerin war. Darum hatte sie bereits vor einiger Zeit beschlossen, eine Art Bestandsaufnahme zu machen. So etwas wie eine Bilanz ihres Lebens. Zeit genug hatte sie nun, da ihr Mann nur selten vor Mitternacht nach Hause kam. Wann genau hatte eigentlich der schleichende Niedergang begonnen? überlegte sie immer wieder. Friederike wusste es nicht genau. Vielleicht sogar schon viel früher, als sie sich eingestehen wollte.
Rieke fiel spontan der Urlaub auf Kreta ein, den sie sich damals so sehr gewünscht hatte. Es war im dritten Jahr ihrer Ehe mit Uwe gewesen. Sie war sehr glücklich mit ihm, so glücklich wie man nur sein konnte. Und sie war unendlich stolz auf ihren attraktiven, wesentlich jüngeren Mann. Jetzt im Nachhinein, als Friederike noch einmal die wunderschönen Fotos des Kreta-Urlaubs mit Sonne, Meer und Strand ansah, fiel ihr auf, dass sie selbst zwar immer überglücklich in die Kamera strahlte und dass sie auf all den Bildern braungebrannt, unbeschwert und freudestrahlend lachte. Sie wirkte, als sie jetzt die Fotos betrachtete, einfach beneidenswert und völlig sorglos.
Doch wenn sie Uwe auf den Bildern ansah, fiel ihr nun mit dem zeitlichen Abstand auf, dass er meist abwesend wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken sehr weit weg, als stünde nur sein Körper wie eine leere Hülle neben ihr. Tatsächlich hatte Uwe ungefähr nach der Hälfte des Urlaubes einen angeblich enorm wichtigen Anruf erhalten, der ihn zwingend sofort zurück in die Kanzlei rief. Damals hatten sie den ersten wirklich großen und ernsthaften Streit gehabt. Als Friederike jetzt die Bilder sah und an die damalige Situation zurückdachte, wurde ihr plötzlich schmerzhaft deutlich bewusst, dass Uwe damals auch keineswegs gewollt hatte, dass sie mit ihm vorzeitig zurückfuhr. Es kam ihr jetzt sogar so vor, als hätte Uwe es möglicherweise ganz bewusst gesteuert, dass sie alleine auf Kreta zurückblieb und er selbst ohne sie nach Hösseringen heimkehrte.
Also, dachte sie verwundert, hatte er vielleicht schon damals gute Gründe gehabt, ohne sie abzureisen. Friederike erinnerte sich noch genau, wie sie den Rest des Urlaubs einsame Ausflüge gemacht, im Meer gebadet und abends als gelangweilter Single an ihrem Tisch im Hotel das Abendessen eingenommen hatte. Wie verloren sie sich damals so alleine vorgekommen war. Wie tapfer sie immer so getan hatte, als mache es ihr nichts aus, alleine zu sein, als sei es für sie ganz normal und gewollt als Single unterwegs zu sein. Sie hatte damals eine ebenfalls alleine reisende, etwas ältere Frau kennengelernt, mit der sie dann immer ihre Mahlzeiten einnahm und abends meist schweigend oder bisweilen leicht genervt der Frau zuhörend, die gerne und viel redete, noch draußen auf der Terrasse saß. Friederike erinnerte sich plötzlich sehr genau daran, wie verzweifelt und hilflos sie damals ihre immer wieder aufkeimende Wut auf Uwe unterdrückte. Wie sie um alles in der Welt nicht zugeben wollte, dass ihr der einsame Urlaub keinen Spaß gemacht hatte.
Vielleicht, dachte sie, hätte ich schon damals direkt nachfragen sollen, was ganz genau der Grund für Uwes verfrühte Heimreise war. Damals hatte ihr die Kanzlei noch gehört und es hatte den alten Bellmann noch gegeben. Zu jener Zeit hätte sie alles noch ganz anders steuern können. Ja, dachte sie verbittert, seinerzeit wäre vielleicht alles, was danach kam, noch zu verhindern gewesen. Wehmütig und ein bisschen ärgerlich über ihre eigene Dummheit sah sie noch einmal das Foto an, auf dem sie so lachend und glücklich an Uwes Seite strahlte und ihr attraktiver Mann mit fernem, unergründlichem Blick auf das blaue Meer hinaus sah.
Auch Paula kramte währenddessen in Erinnerungen, an die sie eigentlich nicht mehr rühren sollte. Doch das war sehr schwer. Paula erinnerte sich an diesem Abend wie so oft schmerzhaft genau an die Nacht, in der sie den Fluch für Michael geschrieben hatte. Eigentlich hätte sie diesen Abend und den Fluch für immer aus ihren Gedanken verbannen sollen, einfach nicht mehr daran denken, denn einen einmal geschriebenen und gebundenen Fluch sollte man bis zu seiner Erfüllung ungestört ruhen lassen. Doch genau das fiel Paula schwer, denn der Fluch war noch nicht erfüllt und sie grübelte immer wieder, ob sie etwa doch etwas falsch gemacht hatte. Schon in diesen aufregenden Tagen hatte Paula erfahren, dass Michael sehr wohl schon oft auf dem Tobel gewesen war und dass er wieder kommen würde. Und das war noch nicht alles.
Kurz darauf war der unsägliche Verdacht aufgekommen, dass es vielleicht sogar Henrik von der Achteren, Aushilfs-Pastor in St. Marien zu Uelzen und Paulas Geliebter, gewesen sein könnte, der an dem Missbrauch der kleinen Leonie beteiligt gewesen war. War Henrik der geheimnisvolle zweite Mann hinter dem Missbrauch? War das möglich? Paula war völlig außer sich gewesen, als sie sich unversehens diesem ungeheuren Verdacht stellen musste. Sie versuchte verzweifelt diesen entsetzlichen Gedanken keinen Raum zu geben, wollte nicht darüber nachdenken, bis ihr eindringlich bewusst wurde, was schon der bloße Verdacht auch für sie selbst bedeutete. Sollte Henrik tatsächlich an dem Missbrauch beteiligt gewesen sein, würde auch ihr Geliebter unweigerlich auf dem Tobel sterben, sobald er ihn betrat. Seit Paula diesen Gedanken zum ersten Mal zögernd in ihr Bewusstsein gelassen hatte, fand sie keine Ruhe mehr, denn sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Ihr erster Gedanke war, Henrik nicht mehr auf den Tobel zu lassen, um ihn nicht zu gefährden. Doch schon einige Stunden später wurde Paula schmerzhaft klar, dass dieses Vorhaben ganz gewiss keine dauerhafte Lösung, sondern Feigheit war. Sie konnte nicht für immer mit der Ungewissheit leben, ob Henrik schuldig war oder nicht. So sehr sie ihn auch liebte, auf Dauer war es keine Lösung ihn fernzuhalten.
Nun, da Paula endlich den Fluch gesprochen, ihn unauflösbar gebunden und damit die Wirksamkeit besiegelt hatte, sollte sie eigentlich zur Ruhe kommen. Doch ihre schrecklichen Zweifel, ihre namenlose Angst wegen Henrik nagte unaufhörlich und ständig an ihr. Und dann waren da plötzlich auch noch die beunruhigenden Veränderungen des Gartens und zudem noch die Erregung und Anspannung der Wege, die in der Nähe des Grundstückes verliefen. Paula war aufgewühlt und beunruhigt, wie noch nie zuvor. Sie hatte den ganzen Tag schon ein drückendes Gefühl von nahender Gefahr gespürt. Sie hätte es nicht genau beschreiben können, doch die Gefahr war da. Sie war wie eine dunkle Wolke am Horizont, die sich heran schob und das Unheil war fast mit Händen greifbar. Und auch ihr Grundstück, das so vieles mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten und durch die Kraft der Geschöpfe, die dort existierten, ausdrücken konnte, auch der Tobel war unglaublich wachsam und nervös. Die Unruhe war in Wellen, die selbst die Erde durchliefen, spürbar. Paula glaubte zu fühlen, dass die Wurzeln der Pflanzen geheime Botschaften und Warnungen untereinander austauschten.
Sie schrieb in ihr Tobel-Tagebuch. „Etwas geschieht. Etwas Unheimliches kommt auf uns zu. Die Pflanzen rühren sich nicht, doch sie sind wachsam und sie scheinen ständig untereinander zu kommunizieren. Durch Bewegungen, ein Rascheln der Blätter, ein geheimnisvolles Raunen und es ist Vollmond.“ Mit einem leisen Seufzer schloss Paula das Buch und ging noch einmal in den Garten. Die kleine verborgene Quelle im hintersten, dunkelsten Teil des Gartens sprudelte kurz auf, als Paula an ihr vorüber ging und floss dann wieder gurgelnd aus ihrem unterirdischen Zufluss, der hier an die Oberfläche trat und durch den Bernadette einst vor über 200 Jahren in dunkler Nacht den Zugang zu dem Garten gefunden hatte, der eigentlich uraltes Erbe ihrer Familie war. Zwischen den jagenden Wolken war immer nur für kurze Momente der riesige Vollmond zu sehen, der hell leuchtend über dem Wald stand.
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