Paula fröstelte permanent, ohne allerdings zu wissen, ob es eine natürliche Kälte oder die bange Ahnung von kommendem Unheil war. Sie häufte schaudernd Holz im Kamin auf. Insgeheim hoffte sie darauf, dass Bernadette, deren Leben sie unmittelbar nachdem sie auf den Tobel gekommen war, zuerst erforscht hatte, wie früher schon öfter geschehen, in den Flammen erscheinen und ihr weiter helfen würde. Paula hatte damals zu der Waldhexe, die 16jährig und schwanger um 1780 in großer Not auf den Tobel gekommen war, eine besondere Beziehung entwickelt. Doch das Feuer im Kamin brannte an diesem Abend einfach nur ruhig und unauffällig. Ein harmloses Kaminfeuer wie jedes andere. Paula saß nachdenklich vor dem Kamin und starrte in die Flammen, die sie mit ihrem feurigen Glanz zu verhöhnen schienen. Seufzend holte sie sich noch einmal ein Glas Wein und starrte ungläubig und etwas beschämt die bereits ziemlich leere Flasche an, die sie erst an diesem Abend geöffnet hatte. Dennoch fühlte sie keinerlei Wirkung des Weins und auch die erhoffte Müdigkeit war bisher ausgeblieben.
Überrascht sah sie auf die Uhr. Schon so spät. Sie war am nächsten Morgen mit Ruth verabredet. Entschlossen nahm sie drei Esslöffel der Tinktur, die ihr Ruth für solche Fälle überlassen hatte und die, wie Ruth versichert hatte, zuverlässig Schlaf bringen sollte. Allerdings hatte Ruth als Dosis lediglich einen Teelöffel der Flüssigkeit empfohlen und ganz gewiss nicht ganze drei Esslöffel. Tatsächlich aber fühlte Paula schon kurz nach der Einnahme von Ruths Wundertinktur eine bleierne, wohlige und absolut unwiderstehliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Erleichtert ging sie rasch zu Bett und schlief lächelnd unmittelbar danach ein. Doch der erholsame Schlaf währte nicht lange. Schon kurze Zeit später begann ein Traum, der so lebhaft, so eindringlich und erschreckend war, dass Paula ihn sich später immer wieder sofort in jeder Einzelheit in Erinnerung rufen konnte. Sie sah dann die Bilder des Traums wieder lebhaft vor sich und vergaß ihn nie mehr.
Paula befand sich in einem Land, das sie nicht kannte und in dem sie ganz sicher noch nie zuvor gewesen war. Es war ein raues und wildes Land mit steilen Klippen, an denen Seevögel in schwindelnder Höhe nisteten. Von wo sie sich mit wilden Schreien halsbrecherisch von den scharfkantigen Klippen stürzten und schrill kreischend über die schäumenden Wellen und die hochfliegende Gischt der See hinweg flogen. Es war ein Land mit hohen, schroffen Felsen, aber auch mit sanften, grünen Hügeln und weiten, grasbewachsenen Hochebenen. Ein wütender Sturm tobte laut heulend und gefährlich über dem Land. Sturmgraue Wolken rasten über den düsteren Himmel und Blitze zuckten drohend zwischen den finsteren, hoch aufragenden Wolkentürmen. Paula versuchte verbissen einen Ort zu erreichen, von dem sie nicht wusste, wo er sich befand, noch was sie dort wollte, oder weshalb sie diesen Ort so verzweifelt suchte. Sie wusste nur, dass sie unbedingt so schnell wie möglich an diesen Platz gelangen musste.
Plötzlich sah sie auf einer sturmumtosten nahen Bergkuppe, über die unheildrohende, schwarze Wolken jagten, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte langes, tiefrotes Haar, das wild und wie lebendig geworden im Sturm um sie hertanzte. Das Mädchen hob graziös wie eine Ballerina beide Arme mit elegant gespreizten Fingern weit über den Kopf, dehnte genüsslich den schlanken Körper und begann in dem wilden Tosen langsam und sinnlich zu tanzen. Selbst der Sturm schien einen Moment innezuhalten und der fernen Melodie zu lauschen, die wohl nur das tanzende Mädchen hören konnte. Vielleicht hörte der Sturm aber auch auf einen Befehl, dem er zwingend gehorchen musste und den Paula nicht vernehmen konnte. Das Mädchen reckte sich, warf das lange Haar zurück und begann das Tempo zu steigern und wilder und hemmungsloser zu tanzen.
Hingebungsvoll wiegte sie sich im Wind, eine schmale, bis in die Fingerspitzen graziöse Gestalt, ganz und gar dem Tosen des Sturmes hingegeben und ihn gleichzeitig immer weiter anfeuernd. Bald wurde sie noch schneller, wilder und zügelloser und wirbelte in atemberaubendem Tempo ungestüm herum, so dass die roten Haare wallend und tanzend um sie her flogen. Dann wieder schien sie in stummem Befehl jemanden oder etwas zu sich locken. Sie bewegte beschwörend die schlanken Arme, als wollte sie etwas zu sich heranziehen. Plötzlich sah Paula erschrocken wie die felsige, mit leuchtend grünem Gras durchsetzte Bergkuppe, auf der das Mädchen sich wiegte, sanft von innen heraus zu glühen begann. Mehr und mehr, heller, leuchtender und feuriger. Je wilder die Tänzerin sich selbstvergessen wie in Trance drehte, desto heißer glühte die bläuliche, wabernde Flamme im Berg. Bis sich plötzlich mit einem Erdstoß, der Paula mit brutaler Gewalt umwarf und gegen einen zackigen Felsen schleuderte, ein klaffender Riss auftat. Ein Spalt, aus dem hohe bläulich rote, sengende Flammen schlugen und mit verlangenden Fingern und feurigen Zungen gierig nach der schönen Tänzerin griffen. Fasziniert und hilflos, mit heftig schmerzendem Rücken, musste Paula hart gegen den Fels gepresst, an den sie geschleudert worden war, mit ansehen wie der Riss in der Bergkuppe breiter wurde, immer mehr aufriss und die Flammen fortwährend höher hinauf schlugen, je wilder die Tänzerin herumwirbelte. Die Rothaarige tanzte jetzt mitten in einer Feuersäule rasend schnell und unaufhörlich. Sie heizte mit ihrem wilden Tanz die Glut immer weiter an. Und zwar sowohl den schaurigen Brand, als auch die Flammen und sogar den Sturm der, noch immer fauchend und heulend über das Land, das Meer und die Felsen hinweg tobte. Paula wollte schreien, nein, halt hör auf, doch sie brachte keinen Ton hervor und konnte sich nicht rühren. Hilflos, stumm und bewegungsunfähig musste sie mit ansehen, wie die Tänzerin noch immer in ihrem wirbelnden Tanz bis in die Wolken aufstieg und schneller und schneller wurde bis der ganze Berg mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst.
Glühende Lava schoss himmelhoch und funkensprühend in einer feurigen Säule zu den schwarzen Wolken hinauf und ergoss sich dann unter weiteren gewaltigen Erdstößen über das ganze Land. Sie begrub Dörfer, Gehöfte, Menschen und Tiere für alle Zeiten unter sich. Und noch immer tanzte die schöne Frau ungerührt in den Flammen weiter. Flüsse, die einst klares Wasser gespendet hatten, wurden zu glühenden Lavaströmen und damit auch zu alles vernichtenden, ausnahmslos jeden verschlingenden Todesfallen. Dörfer und Häuser wurden begraben und Mensch und Tiere starben in dem glühenden Gestein und würden irgendwann selbst zu Stein werden, erstarrt und erkaltet, gefangen in ihrer ewigen, immerwährenden Qual. Die ganze Welt ging in einem Flammenmeer unter und Paula wurde mit einem unendlich schmerzvollen Schrei ohnmächtig und versank im Dunkel der Bewusstlosigkeit.
Als Paula gegen Morgen, erwachte war sie vollkommen nass geschwitzt. Ihre Haare und ihr Kissen waren feucht und ihre Nägel hatten sich während des Traumes offenbar tief in ihre Handflächen gegraben und halbmondförmige, blutige Spuren hinterlassen. An ihren Fingern hatte sie schmerzhafte Brandblasen und die Tränen, die sie im Schlaf geweint hatte, hatten Spuren auf ihrem über und über mit Asche beschmutzten Gesicht hinterlassen. Ihre Wangen waren noch immer tränennass und sie fror entsetzlich.
Als sie zitternd und taumelnd aufstehend wollte, um ihren brennenden Durst zu löschen, sank sie laut stöhnend auf das Bett zurück. Ihr Rücken schmerzte unerträglich und als sie verblüfft in den Spiegel sah, bemerkte sie voller Schrecken großflächige Abschürfungen und einige tiefblaue Flecken und rötliche Schwellungen auf ihrem Rücken, als wäre sie mit großer Gewalt gegen einen harten Gegenstand geschleudert worden. In diesem Moment fiel ihr der Sturz gegen den Felsen wieder ein, als in ihrem Traum die Erdstöße begonnen hatten. Schwankend und unsicher kam Paula auf die Beine und trank gierig mehrere Gläser Wasser, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann duschte sie ausgiebig, ignorierte den Schmerz der Wunden auf ihrem Rücken, als das heiße Wasser der Dusche über die Verletzungen lief, und brühte anschließend noch immer stark benommen einen Tee aus Ruths Spezialmischung auf. Tief beunruhigt und leise stöhnend setzte Paula sich an den Schreibtisch und schrieb alles auf, was sie noch immer deutlich, wie etwas eben Erlebtes vor sich sah. Jede Einzelheit des schrecklichen Traumes war in Paulas Gedächtnis eingebrannt. Dennoch schrieb sie alles auf, auch über die Verletzungen, dass sie Brandblasen hatte, mit Asche beschmutzt war und ihr Rücken grün und blau wurde und tiefe Schrammen und Schwellungen, wie nach einem realen Sturz gegen einen Felsen aufwies.In dieser Nacht hatte Paula eindrucksvoll die Bekanntschaft der Feuertänzerin gemacht und ihr graute vor der ungestümen Gefährlichkeit dieses Wesens aus einer anderen Welt, oder wo auch immer sie herkommen mochte. Dennoch war sie überzeugt, dass es kein Zufall gewesen war, dass sie diesen Alptraum hatte durchleben müssen.
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