Bis auf das leise Kratzen der Feder auf Papier war es sehr still im Haus. Zu still, um ehrlich zu sein. Doch als der einzige Bewohner, Planchet, der im Nebenzimmer schon schlief nicht mitgerechnet, wäre außer d'Artagnan auch niemand da gewesen, der viel Krach hätte schlagen können. Obwohl der übrige Teil des Hauses nach Constances Tod und Bonacieux' Verschwinden nicht länger bewohnt wurde und der Musketier die Möglichkeit besessen hätte, seine Mansarde gegen das geräumigere Erdgeschoss einzutauschen, zog d'Artagnan dennoch diese Dreizimmerwohnung vor. Sie hatte eine eigene Tür, um über einige Stufen von der Straße aus direkt hineingelangen zu können, ohne das eigentliche Haus betreten zu müssen. D'Artagnan hätte sich längst auf die Suche nach einer neuen Bleibe machen sollen. Mit dem Sold eines Leutnants wäre sogar mehr als eine schlichte Untermiete möglich gewesen. Weder übertriebener Geiz noch praktische Überlegungen hatten einen Umzug bisher verhindert. Vielmehr hatte d'Artagnan bislang nicht die Muße bei den vielen neuen Verpflichtungen als Offizier gefunden, um sich nach einer neuen Unterkunft umzusehen. Sich als Leutnant erst noch beweisen zu müssen, war schon Aufgabe genug. Aber daneben auch neue Wirtsleute für sich zu gewinnen, die d'Artagnans dringenden Wunsch nach Privatsphäre akzeptierten, dafür fehlte die Zeit. Also blieb für den Moment alles beim Alten und nur die Küche im Erdgeschoss wurde regelmäßig von Planchet benutzt.
Einen Moment lang überlegte d'Artagnan, den braven Diener zu wecken. Planchet hatte eine Gabe, auch aus dem Wenigsten noch etwas Anständiges zaubern zu können und da die Speisekammer in den letzten Tagen nicht mehr so gut gefüllt wie zu Beginn des Monats war, hätte der Diener sein ganzes Können aufbieten dürfen. Allerdings stand d'Artagnan nun nicht der Sinn nach einer dünnen Gemüsesuppe und Brot, also verwarf der Leutnant diesen Gedanken wieder und beschloss, den Appetit auf ein frisch zubereitetes Ragout aus dem 'Tannenzapfen' zu ignorieren.
D'Artagnan war so in die Wachliste vertieft, dass das leise Klopfen an der Haustür beinahe überhört worden wäre. Erst als sich das Klopfen lauter wiederholte, schreckte d'Artagnan auf. Mehr aus einer Ahnung heraus legte der junge Leutnant die Feder beiseite, richtete seine Kleidung und öffnete die Tür. Niemand hätte um diese Zeit noch mit Besuch gerechnet, umso größer war die Überraschung, als da plötzlich Aramis auf der Schwelle stand und d'Artagnan mit einem versteckten Lächeln ein kleines, sehr warmes Paket in die Hände drückte. Verdutzt starrte d'Artagnan erst das Paket an, einen verschnürten Tontopf, anschließend den Freund, der schulterzuckend meinte: „Wir dachten, Ihr hättet vielleicht Hunger.“
D'Artagnan lachte vergnügt auf und bat Aramis, einzutreten. „Ich danke Euch. Ihr ahnt gar nicht-“
„Möglicherweise doch.“ fiel Aramis seinem Leutnant ins Wort und deutete auf die verstreut liegenden Zettel auf dem Tisch. D'Artagnan wehrte den Einwand etwas lahm ab. „Nein, damit bin ich bald fertig.“
Aramis schien von dieser Antwort nicht recht überzeugt, beließ es aber ohne ein weiteres Wort dabei und sah beim Öffnen seines Pakets zu. D'Artagnan hob den Deckel und dem Tontopf entströmte sofort ein köstlicher Duft von Bratensauce und frischen Kräutern. „Ragout?“
„Wir haben doch alle unsere Leibspeise.“ grinste Aramis über sein geglücktes Geschenk und das Lächeln, das es in d'Artagnans Miene gezaubert hatte. Es war genug, dass auch für Planchet noch etwas abfallen würde. Mit der letzten höflichen Zurückhaltung fragte d'Artagnan: „Teilt Ihr mit mir?“
„Nein, langt nur zu. Ich bin satt.“
„Wie Ihr meint. Aber ein Glas Wein kann ich Euch doch anbieten?“
Aramis lehnte mit der Erklärung ab, er müsse heute Nacht nüchtern bleiben. Der Leutnant fragte nicht weiter nach, denn der Freund liebte es, geheimnisvoll zu tun und verlor in der Regel nicht mehr als Andeutungen über seine Beweggründe - obwohl sich jeder selbst seinen Teil dazu denken konnte, was Aramis in dieser Nacht wohl noch nüchtern unternehmen wollte. Während d'Artagnan also aß, berichtete Aramis über den Abend im 'Tannenzapfen'. Erwartungsgemäß enerviert reagierte der Leutnant auf den Namen Moissacs und mit wachsendem Zorn hörte er die Äußerungen Saint-Marcs und Villeneuves. „Ich kenne diese beiden noch von meiner Zeit bei der Garde. Es war von Anfang an offensichtlich, dass wir keine Freunde werden würden. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass sie soweit gehen würden, uns herauszufordern.“
„Eine Herausforderung wurde auch im letzten Moment abgewendet.“
„Was ist geschehen?“ D'Artagnan schob den leeren Teller von sich und hörte aufmerksam zu, während Aramis von des Essarts' unerwartetem Erscheinen erzählte, bevor der Streit handfest eskalieren konnte. Auch das anschließende Gespräch blieb nicht unerwähnt. Als Aramis geendet hatte, trugen beide Freunde besorgte Mienen und d'Artagnan meinte: „Gerüchte verbreiten sich in Paris zu schnell. Dabei kann ich nicht einmal sagen, was das eigentliche Gerücht ist. Dass die Kompanie der Musketiere wegen ihres 'unbequemen' Hauptmanns aufgelöst werden soll? Oder dass der Hauptmann 'unbequem' geworden ist, weil angeblich seine Kompanie der Musketiere aufgelöst werden soll? Das ist doch Unsinn, lächerlich!“
„Ich muss Euch recht geben, ich halte das Eine wie das Andere für unwahrscheinlich. Aber es lässt sich nicht abstreiten, dass etwas im Gange ist und ich bin sicher, es hat ebenso mit der Kompanie wie mit Tréville zu tun. Besonders Euch dürfte das nicht entgangen sein.“
„Ich denke, wirklich allen Musketieren ist es aufgefallen.“ erwiderte d'Artagnan unwirsch. „Ich bin keine 'besondere' Ausnahme.“
Aramis' Blick sprach Bände, aber ob der finsteren Miene seines Gegenübers beeilte er sich zu beschwichtigen: „Ich wollte nur sagen: Ihr seid der Leutnant unserer Einheit.“
„Ah, darauf wolltet Ihr hinaus. Natürlich.“
„Ja, und ich soll Euch mit dem Ragout auch einen Auftrag von Athos überbringen.“
D'Artagnan fragte skeptisch: „Einen Auftrag? Wirklich?“
„Vielleicht ist die Bezeichnung 'Bitte' angemessener.“ lächelte Aramis entschuldigend. „Seht Ihr, wir möchten alle dringend erfahren, was unseren Hauptmann bedrückt...“
„...und Athos glaubt also, ich wäre am besten geeignet, um genau dies herauszufinden.“ Ungläubig schüttelte d'Artagnan den Kopf und fuhr mit beinahe schmerzhaftem Sarkasmus fort: „Wenn das nur so einfach wäre! Jeder andere Musketier ist dafür geeigneter als ich.“
„Das glaubt Athos eben nicht und ich schließe mich seiner Meinung an.“
„Hervorragend! Euer Vertrauen ehrt mich, aber ich fürchte, Ihr täuscht Euch dieses Mal.“
„Sollten Eure besten Freunde Euch tatsächlich so falsch eingeschätzt haben?“ fragte Aramis halb belustigt, halb vorwurfsvoll. Umso heftiger wurde ihm erwidert: „Nein, Ihr versteht nicht, es-!“ D'Artagnan brach unvermittelt ab und verschränkte dann trotzig die Arme vor der Brust, als Aramis verwundert die Brauen hob. „Was sollte ich nicht verstehen? Kann es so schwierig sein, wenn der Leutnant seinen Hauptmann um ein offenes Gespräch bittet?“
„Ja! Vielleicht, ja!“ war die hitzige Antwort. „Auf jeden Fall dann, wenn es diesen Leutnant gar nicht geben dürfte!“
Schlagartig wurde es sehr still in dem kleinen Mansardenzimmer. Aramis lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte d'Artagnan schweigend. Es gelang ihm nicht, Blickkontakt herzustellen, d'Artagnan wich ihm unwohl, fast beschämt aus. Der Gedanke war nun laut ausgesprochen und nichts als die Wahrheit. Diesen Leutnant dürfte es nicht geben, auf dem Patent hätte ein anderer Name stehen sollen. Aber Athos, Porthos und Aramis hatten die Beförderung abgelehnt und Athos hatte schließlich d'Artagnans Namen in das Offizierspatent eingetragen, ohne die weitreichenden Konsequenzen zu ahnen. Ohne nach der Meinung des Hauptmanns zu fragen. „Wirklich.“ räusperte sich d'Artagnan nach langen Momenten und nahm den Faden wieder auf. „Ihr solltet nicht auf diesen Plan bestehen. Athos irrt sich. Tréville wird mir nicht zuhören.“
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