„Ihr glaubt, wir wüssten es?“ fragte Aramis.
„Ihr seid Teil des Korps und euer Hauptmann lobt euch in den höchsten Tönen, wenn wir von euch sprechen. Nichts weiter als ein kleiner Konkurrenzkampf unter uns Offizieren, wer die hervorragendsten Soldaten zu seinen Untergebenen zählt. Wie auch immer es darum steht, aber ich greife inzwischen nach jedem Strohhalm. Zu viel Gerede schadet. In diesem Fall nicht nur einem guten, meinem besten Freund und seiner Kompanie, sondern auch meiner Familie. Das muss aufhören!“
Die Musketiere wechselten bedrückte Blicke und schließlich gestand Aramis: „Nein, wir sind ebenso ahnungslos. Etwas hat sich über die letzten Wochen verändert, aber wir wissen weder was noch warum.“
„Was ist mit d'Artagnan?“
Nicht nur Athos und Porthos merkten auf. Auch Aramis runzelte die Stirn und schien es seltsam zu finden, dass nach Saint-Marc und Villeneuve jetzt auch ihr Hauptmann gezielt auf d'Artagnan zu sprechen kam. Wenn auch mit anderen Absichten. „Was meint Ihr?“
„Wenn ich sage, mein Schwager lobt seine besten Männer in höchsten Tönen, dann fällt auch regelmäßig d'Artagnans Name. Der Leutnant steht von allen Musketieren seinem Hauptmann am nächsten. Wenn also jemand eine noch so leise Ahnung haben könnte...“
„Uns hat er auf jeden Fall noch nichts erzählt.“ erwiderte Aramis verschnupft. Athos hatte den Wortwechsel bis da stumm verfolgt und wunderte sich über die doch reichlich unterkühlte Antwort des Freundes, die nicht zur Frage zu passen schien. Des Essarts' Überlegung war nicht abwegig, aber auch Porthos schaute merkwürdig peinlich berührt drein. Als dem Hünen Athos' blanke Miene auffiel, raunte er nur für ihn hörbar: „D'Artagnan soll dem Hauptmann näher stehen als seine eigene Frau?“
Athos hustete, als hätte er sich am Wein verschluckt und Porthos beeilte sich zu versichern: „Das wird Essarts bestimmt nicht gemeint haben, nicht wahr?“
Athos bemühte sich gar nicht erst darum, diesen absurden Gedankengang verstehen zu wollen und wandte sich direkt an des Essarts. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Hauptmann?“
„Sprecht.“
„Vielleicht solltet Ihr unter vier Augen mit Herrn de Tréville sprechen.“
„Denkt Ihr, das habe ich nicht bereits versucht?“ Essarts klang mehr belustigt als beleidigt und Athos erklärte seine Überlegung hinter dem Vorschlag näher. „Es ist richtig, dass derzeit der Leutnant unseren Hauptmann noch am häufigsten zu Gesicht bekommt. Deshalb werden wir d'Artagnan bitten mit Monsieur de Tréville zu sprechen. Aber das allein wird nicht viel nutzen, wenn Ihr es nicht auch erneut versucht. Vielleicht ist es notwendig, dass jemand außerhalb der Familie Monsieur de Tréville darauf aufmerksam macht, dass in Paris schon Gerüchte über ihn umgehen. Aber es braucht jemanden von gleichem Rang und Status, der d'Artagnan unterstützt.“
Nach einem Moment des Zögerns stimmte des Essarts zu. „Nun gut. Selbst, wenn wir dadurch nichts erreichen sollten, den Versuch muss es wert sein. Ich bin sicher, auch die Sturheit meines Schwagers kann gebrochen werden. Zu seinem eigenen Wohl.“ Des Essarts erhob sich. „Ich wünsche uns allen viel Erfolg. Hoffen wir das Beste.“ Er grüßte die Musketiere knapp und verließ den 'Tannenzapfen'. Im Gegensatz zu Moissac musste sich der Hauptmann nirgendwo durchdrängeln, denn die meisten Gäste wichen respektvoll zur Seite.
„Das war, nun, eigenartig?“ meinte Aramis ein wenig ratlos, als die Freunde jetzt allein am Tisch zurückblieben. „Ist es um den Ruf der Kompanie schon so schlecht bestellt, dass sich andere Offiziere einmischen müssen?“
Athos schenkte sich großzügig Wein nach. „Eine Familienangelegenheit. Freund und Schwager.“
Aramis wog zweifelnd den Kopf, aber Porthos schien recht zufrieden mit der Lage und meinte: „Immerhin hat Essarts uns von diesen unverschämten Gardisten befreit.“
„Er ist ebenso in Sorge wie wir.“ fügte Athos hinzu, aber Aramis lächelte spöttisch. „In Sorge um den guten Ruf seiner Familie, ja. Wer wäre das nicht?“
„Aramis, seit wann seht Ihr in den Menschen immer zuerst die schlechten Seiten?“
„Und Ihr, Athos, seit wann seht Ihr immer zuerst die Guten?“
„Ich sehe vor allem“, mischte sich Porthos ein, „dass wir ein Versprechen gegeben haben, an das wir uns nun halten müssen.“
„Ihr habt recht.“ Aramis blickte zu den Fenstern. Die Abenddämmerung war schon lange vorbei, draußen erhellten nur noch die Laternen der Nachtwächter die Straßen. „Wie spät mag es ein?“
„Zu spät. D'Artagnan wird nicht mehr kommen.“ erwiderte Athos.
„Wollt Ihr ihm noch heute Abend Euren Auftrag erteilen?“
„Je früher desto besser, Aramis. Ich teile die Meinung des Essarts', dass von allen Musketieren d'Artagnan im Augenblick noch am ehesten ein Gespräch mit dem Hauptmann führen kann.“
Aramis musterte eine Weile stumm den Freund mit einem schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. Schließlich schien er ein Zwiegespräch mit sich selbst beendet zu haben. „Nun, wenn das so ist, schlage ich vor, dass ich gehe und es ihm sage. Zum einen habe ich meine Mahlzeit bereits beendet.“ meinte er mit einem Seitenblick auf die erst halb geleerten Teller von Athos und Porthos und seinem eigenen, auf dem ohnehin nur eine Fastenmahlzeit zu finden gewesen war. „Zum anderen wollte ich ohnehin jetzt gehen.“
Athos hob eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu. Wahrscheinlich wartete noch eine einsame Dame auf den Zuspruch des verhinderten Priesters. Porthos klopfte ihm auf die Schulter. „Ihr solltet d'Artagnan etwas mitbringen. Zwischen dieser Liste und dem Weg nach Hause war bestimmt keine Zeit für eine ordentliche Mahlzeit.“
„Das hatte ich vor, ja.“ schmunzelte Aramis wissend und verabschiedete sich von den Freunden. Er bahnte sich einen Weg zur Küche, ließ sich dort von der Wirtsfrau eine Mahlzeit einpacken und trat schließlich aus dem Gasthaus ins nächtliche Paris.
Die Häuser in der Rue des Fossoyeurs schliefen schon friedlich, nur aus vereinzelten Fenstern drang noch dumpfes Licht auf die Straße. Wer jetzt noch unterwegs war, hatte dafür gute Gründe. Ein Nachtwächter schwenkte seine Laterne und vermied es jede allzu dunkle Ecke auszuleuchten, um nichts und niemanden aufzuschrecken. Der lehmige Untergrund schluckte das Geräusch seiner Schritte, von der Seine her zog Nebel auf und tastete mit klammen Fingern nach Spalten und Ritzen. Eine normale Nacht war angebrochen.
Auch das kleine Mansardenzimmer eines Eckhauses wurde nur noch durch den flackernden Schein einer bereits halb heruntergebrannten Kerze erhellt. Eine Glocke in der Ferne schlug Elf und wer vernünftig war, legte sich nun schlafen. Doch für den Bewohner dieser Dachstube war an eine wohlverdiente Ruhe noch nicht zu denken. D'Artagnan saß, mit dem Federkiel in der Hand, an einem Tisch über die Wachliste gebeugt und suchte nach dem unauffindbaren Fehler. Die Liste war nun schon mehrfach von vorne begonnen, trotzdem tauchte immer wieder ein Problem auf: Es war ganz einfach nicht möglich die letzte Lücke ohne eine doppelte Schicht zu schließen. Der Leutnant hatte nicht umsonst Fournier zum zweifachen Wachdienst eingeteilt, zur freiwilligen Vertretung für seinen kränkelnden Freund Mallarmé. Fournier war einverstanden gewesen, aber mit der neuen Liste würde er sich fragen, ob sein Vorgesetzter eigentlich ein wankelmütiger Trottel war.
D'Artagnan konnte sich noch zu gut an den frühen Abend und das Arbeitszimmer des Monsieur de Tréville erinnern, als das unachtsamer Weise der erste, vermeintlichen Fehler kurzerhand durch einen anderen ersetzt wurde. Tréville war in keiner Stimmung gewesen, um eine Erklärung anzuhören. Er hatte gleich losgepoltert, als wäre die Liste nur ein Vorwand gewesen, um d'Artagnan zurechtzuweisen. Möglicherweise war die Lösung zum Greifen nahe. Es musste doch einfach ein Kompromiss zu finden sein, der auch den Hauptmann zufrieden gestellt hätte! D'Artagnan las den neuesten Versuch und verglich die Anordnung der Namen und Zeiten mit denen auf der zerknitterten, ersten Liste. Viel hatte sich nicht geändert, doch bisher schien dem Leutnant dieser neue Wachplan noch als die beste Lösung - bis auf die Mittagswache, die nun ihrerseits sehr ungünstig eingeteilt war. D'Artagnan seufzte, setzte den Kiel erneut an und versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Mit Magenknurren war das nicht gerade einfach und nicht zum ersten Mal während der letzten Stunden beneidete der Leutnant seine Freunde, die im 'Tannenzapfen' einen vergnüglichen Abend verbrachten. Wer hätte auch gedacht, dass sich die Korrektur dieser Liste als so zeitaufwendig und schwierig herausstellen würde? Vielleicht wäre es doch besser gewesen Aramis' Angebot anzunehmen.
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