Rochefort ließ endlich vom Wandteppich ab. Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, ratlos, die Narbe an seiner Schläfe tat sich auffällig vor. „Dieser Bericht ist erst wenige Minuten alt.“
Ein weiteres Mal überflog Richelieu das Dokument. Dann legte er es zu einem Stapel ähnlicher Schriftstücke und richtete seinen durchdringenden Blick wieder auf den Stallmeister. Rochefort diente dem Kardinal schon ein halbes Leben treu und ergeben. Er hatte seinen Verstand an den undurchsichtigen Ränkespielen des Hofs geschärft, mehr als eine Wunde dabei davongetragen und selten sah er sich außerstande, eine unausgesprochene Frage seines Herrn befriedigend zu beantworten. Aber hier stieß Rochefort an seine Grenzen. „Seit Tagen schon bringen mir meine Spione solche Berichte, immer mit ähnlichem Wortlaut: '...so scheint Verwirrung und Ratlosigkeit ob des auffälligen Verhaltens Hauptmann de Trévilles in der Kompanie zu herrschen...' - Die Lage spitzt sich zu.“
Der Kardinal hob verwundert eine Braue und sprach zum ersten Mal, seit Rochefort den Raum betreten und das Schreiben überreicht hatte. „Diese Behauptung lässt sich hieraus kaum ablesen.“
„Ist nicht allein die Tatsache, dass sich die Situation nicht bessert ein Indiz dafür, dass sie sich verschlechtert?“
„Ihr seid sehr schnell mit Euren Schlussfolgerungen, Rochefort. Ich verlange jedoch keine Einschätzung dessen, was offensichtlich ist.“ Die Miene Seiner Eminenz verfinsterte sich, ein Schatten legte sich auf die aristokratischen Züge. „Ich will die Gründe dafür erfahren, weshalb ein Mann, den ich sonst als argen Widersacher betrachten muss, beginnt, es mir so leicht zu machen.“
Rochefort schwieg. Es war verständlich, dass jemand wie Richelieu begann sich Gedanken zu machen, wenn sich einer seiner Feinde ohne erkennbare Gründe zurückzog und nicht länger Paroli bot. Wenn ein Gegner sich nicht mehr so verhielt, wie es vorauszuahnen gewesen wäre; wie bei der letzten Audienz des Königs. Tréville war nicht erschienen, obwohl der Hauptmann der Musketiere fast täglich zu solchen Gelegenheiten im Louvre anzutreffen war und sei es auch nur, um die Zeit der Unterredung zwischen dem König und dem Kardinal zu verkürzen. Es gab auch ruhige Tage, an denen der Gascogner friedlich zu Hause blieb - allerdings nicht gerade dann, wenn um eine Verkleinerung seiner Kompanie verhandelt wurde. Es war nur eine Scheindebatte, ein Test, wenn man so wollte, um den Inhalt der letzten Berichte zu überprüfen. Natürlich hatte Ludwig XIII. diesen Vorschlag sofort abgelehnt und keines der Argumente Seiner Eminenz gelten lassen, auch ohne dass der Hauptmann der Musketiere dagegen sprechen musste. Doch unter normalen Umständen wäre Tréville über den Gegenstand dieser Audienz schon früher in Kenntnis gesetzt gewesen, als das Richelieu ihn vor dem König überhaupt ausgesprochen hätte und keine Macht der Welt hätte den Hauptmann davon abgehalten, zu erscheinen. Sei es auch nur, um siegreich aus einem Wortgefecht hervorzugehen, bei dem der Kardinal schon vor Beginn der Verlierer gewesen wäre.
Rochefort wurde aus seinen Gedanken gerissen, als eine herrische Stimme befahl: „Findet mir diese Gründe! Beobachtet sorgfältiger! Ich will wissen, ob wir es mit den Launen eines Mannes oder mit einer ernsthaften Bedrohung für den Staat zu tun haben.“
'Keine falsche Bescheidenheit, Eminenz.' dachte Rochefort spöttisch, während er sich zum Zeichen, dass er den Befehl verstanden hatte, verneigte. Gleichzeitig fragte er sich, warum Richelieu erneut ihn und seine Spione heranzog, anstatt aussichtsreichere Mittel einzusetzen. Nicht, dass Rochefort an seinem Erfolg zweifelte. Früher oder später würden ihm seine Agenten die Beweise vorlegen, nach denen der Kardinal verlangte. Aber es schien sich hier um eine sehr dringliche Angelegenheit zu handeln und es gab einen schnelleren Weg, diese 'Gründe' zu erkennen und sie vielleicht für sich selbst nutzen zu können. Übersah der Kardinal zum ersten Mal eine Möglichkeit? Richelieu hielt diese Unterredung wohl für beendet und schien sich den übrigen Papieren auf seinem Schreibtisch zuwenden zu wollen. Anstatt aufzubrechen, um sich seines Auftrages so schnell wie möglich zu entledigen, trat Rochefort einen halben Schritt näher an den Tisch heran. „Monseigneur, erlaubt einen Vorschlag.“
Ein missbilligender und vielleicht auch etwas überraschter Blick traf den Stallmeister, dennoch gab der Kardinal mit einer Geste zu verstehen, dass sein Gegenüber sprechen möge. „Es kann einige Zeit dauern bis sich meine Spione soweit Zutritt ins Hôtel de Tréville verschafft haben, dass sie unauffällig beobachten können, was sich im Innersten der Kompanie abspielt. Von außen erreichen mich immer die gleichen Berichte. Mein Vorschlag lautet, eine Person zu verwenden, die zum einen beinahe uneingeschränkten Zutritt auch ins Arbeitszimmer des Hauptmanns hat, zum anderen keinerlei Verdacht erregen kann, da sie bereits Teil der Kompanie ist.“
„Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Ihr sprecht vom Leutnant der Musketiere?“
„Ja, Eminenz. Ihr habt dieses Patent einem jungen Mann ausgestellt, den Ihr genauso gut in die Bastille oder aufs Schafott hättet schicken können. Jetzt wäre der richtige Augenblick, um den Preis für Eure Gnade einzufordern.“
Die Reaktion auf diesen Vorschlag fiel anders aus, als der Graf es je erwartet hätte: Der Kardinal lachte auf, ja, er schien ehrlich amüsiert. „Zweifelsohne habt Ihr einige Zusammenhänge richtig erkannt und aus Euren Worten spricht eine durchaus kluge Überlegung.“ Ein dünnes Lächeln umspielte weiterhin seine Lippen, als er ernst fortfuhr: „Jedoch mangelt es Euch an Menschenkenntnis. Ihr wollt d'Artagnan zum Verräter machen? Das dürfte Euch schwerlich gelingen. Weder mit Erpressung, noch mit Bestechung.“
„Doch wie steht es mit wirklicher Überzeugung?“ Der Kardinal schien sich in diesem Punkt sehr sicher zu sein, doch Rochefort gab sich nicht so leicht geschlagen. Er wäre nicht der Stallmeister Seiner Eminenz gewesen, wenn er allein von seinen Spione abhängig gewesen wäre. Tatsächlich musterte Richelieu ihn mit neuem Interesse. „Welche Art von Überzeugung meint Ihr da?“
„Es gibt Dinge, die nicht in diesen Berichten stehen. So scheint im Moment ein sehr angespanntes Verhältnis zwischen den beiden ranghöchsten Offizieren der Kompanie zu herrschen.“
Einen Augenblick lang dachte Richelieu über das eben Gehörte nach, dann jedoch winkte er ab. „Nein, bei diesem Ansatz werdet Ihr scheitern, Rochefort. Die Loyalität, die unseren jungen gascognischen Freund an seinen Hauptmann bindet, rührt nicht nur von der des Soldaten zu seinem Befehlshaber her. Vertraut hier meiner Menschenkenntnis.“ Damit wandte sich der Kardinal nun endgültig den übrigen Papieren auf seinem Schreibtisch zu und Rochefort musste einsehen, dass sein Vorschlag abgewiesen war.
Die Schenke 'Zum Tannenzapfen' war auch heute wieder gut besucht. Der ausgezeichnete Ruf der Wirtsstube war nicht nur in der Kompanie der Musketiere bekannt, auch die Gardisten des Königs unter Hauptmann des Essarts und sogar vereinzelte Kardinalisten kehrten nach Dienstschluss ein. Der 'Tannenzapfen' bot das übliche Bild seiner Zeit: Die Küche ging beinahe nahtlos in den Schankraum über, in dem zahlreiche Holztische und -bänke aufgestellt waren. Die Luft war schwer von Kochdünsten und Schweiß, die Atmosphäre alkoholgetränkt und laut, lustig und stets nur einen Wimpernschlag von der nächsten Schlägerei entfernt. Im oberen Stockwerk gab es Gästezimmer für Parisreisende und auch sonst bot die Schenke alles erwartbare: Gutes Essen, guten Wein, gute Frauen und als Souvenir die Krätze oder andere unangenehme Krankheiten. Trotzdem galt der 'Tannenzapfen' im Vergleich als sauber und gepflegt. Der Wirt achtete auf Ordnung in seinem Haus und hielt die Polizeistunde meist ein. Von Raufereien hörte man selten und es konnte anschreiben, wer gerade knapp bei Sold war. An manchen Abenden hatten auch Athos, Porthos, Aramis und d'Artagnan von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und ihre Schulden stets gewissenhaft zurückgezahlt.
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