Die Männer ließen ihren Leutnant, der sich rasch einen Weg durch die Menge bahnte, unbehelligt passieren. Als d'Artagnan schließlich ins Freie trat, warteten im Hof bereits drei weitere Musketiere; Athos, Porthos und Aramis schienen in ein reges Gespräch vertieft und der Leutnant hörte gerade noch Aramis mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen sagen: „Ach mein Freund, wenn Ihr die Frauen nur besser verstehen würdet!“ Dabei warf der hübsche Musketier einen auffällig unauffälligen Blick auf ein spitzenbesetztes Taschentuch in der Faust von Athos. Porthos daneben tat nicht viel, um sein breites Grinsen zu verbergen. Stolz zwirbelte sich der Hüne den Schnurrbart und wahrscheinlich fehlte nicht viel dazu, dass er Athos anerkennend auf die Schulter geschlagen hätte. Als d'Artagnan nun hinzutrat, ließ Athos das Tüchlein kopfschüttelnd und, wie es schien, auch ein wenig aufgebracht in seiner Manteltasche verschwinden.
Über dieses doch recht eigenartige Gebaren vergaß d'Artagnan zunächst den Ärger mit dem Vorgesetzten und maß forschend das Gesicht jedes Freundes. Der stattliche Porthos war noch immer bemüht, sein Vergnügen zu verbergen und trug eine selbstsichere Pose auf. Aramis, stets diskret und verschwiegen, zeigte nicht offen, was er dachte, obgleich ein feines Lächeln auf seinen Lippen lag. Athos selbst gab sich bis auf ein missbilligendes Stirnrunzeln ganz ungerührt, unbeeindruckt in seiner würdevollen Haltung als Edelmann. Er fragte leise, und noch bevor d'Artagnan selbst neugierig eine Frage stellen konnte: „Wie steht es heute um den Hauptmann?“
In seinen Worten schwang deutliche Sorge mit und Athos war nicht der einzige unter den Musketieren, den das ungewöhnlich launische Verhalten Monsieur de Trévilles beunruhigte. Der Hauptmann schien sich zu verändern. Wo er sonst ein rechter Lebemann gewesen war, und noch im besten Alter für Duelle oder Liebesabenteuer, zog er sich immer öfter in sein Arbeitszimmer zurück und war für niemanden zu sprechen. Nicht nur die heftigen, manchmal unbegründeten Wutausbrüche, wie d'Artagnan eben einen über sich hatte ergehen lassen müssen, zeigten, dass etwas nicht in Ordnung war. Hinzu kam die neue Übergenauigkeit in allen dienstlichen Angelegenheiten, obwohl Tréville selbst immer öfter unpünktlich erschien. Manchmal gab es ein unerklärlich langes Schweigen zwischen zwei Befehlen, das nur auf geistige Abwesenheit zurückgeführt werden konnte - ausgerechnet jenem Fehler, der dem Leutnant eben noch vorgehalten worden war. Übellaunigkeit, Reizbarkeit, Ungeduld... die Liste ließe sich lange so weiterführen. Kurzum, der Hauptmann zeigte sich seinen Untergebenen, als wäre er nicht mehr er selbst und dies war Grund genug für eine stille Unruhe innerhalb der Kompanie, die keiner der Musketiere bestätigen oder abstreiten wollte.
Auch Aramis und Porthos schienen auf gute Nachrichten zu hoffen, obwohl ihnen das Wort vom Streit im Kabinett schon längst zugetragen worden sein musste. D'Artagnan hob dann auch nur die Schultern und meinte mit einem Schwenken der Wachliste: „Bedenkt man die zahlreichen Fehler, welche ich hier angeblich gemacht habe, dann kommt es beinahe einem Wunder gleich, dass ich nicht kurzerhand degradiert wurde.“
Athos fasste d'Artagnan kurz bei der Schulter. Stummer Beistand für den jungen Gascogner, dessen aufgesetzte Munterkeit nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass die letzte, heftige Zurechtweisung durch den Hauptmann sein Selbstbewusstsein ordentlich erschüttert haben musste. Seit d'Artagnans Ankunft in Paris vor etwas über drei Jahren, hatte Tréville stets protegierend gewacht und bei allen Abenteuern heimlich oder ganz offen beigestanden. Doch auf einmal schien das ganz ins Gegenteil verkehrt und vor den anderen Musketieren mochte d'Artagnan den eigenen Missmut gut verbergen können. Für die engsten Freunde aber war die knabenhafte Miene wie ein offenes Buch. Vielleicht auch deshalb, um nicht weiter gelesen zu werden, schüttelte der Leutnant nun den Kopf und meinte: „Vergebt, aber ich fürchte, ich werde unsere Verabredung zum Abendessen nicht einhalten können. 'Der Dienst geht vor und es gilt die Pflicht zu erfüllen, bevor die Befehle Seiner Majestät dem Privatvergnügen geopfert werden.' Wer bin ich denn, dass ich dem widersprechen würde?“ D'Artagnans Mundwinkel zuckten ob der verdutzten Gesichter der Freunde. Selbst der sonst so unbekümmerte Porthos schien überrascht, wie übel gelaunt Tréville heute tatsächlich war und rief aus: „Ihr habt noch keinen Dienstschluss? Seit heute früh seid Ihr, ich weiß gar nicht wie viele Stunden länger als alle anderen, einschließlich des Hauptmannes, auf den Beinen und-“
D'Artagnan unterbrach ihn, bevor dieses Gespräch am Ende doch vom Innenhof in die Öffentlichkeit getragen wurde. „Schon gut, mein Freund, schon gut. Den Wachplan zu ändern, ist nicht mehr als eine lästige Pflicht. Ich werde bald danach zu euch stoßen.“
Aramis blickte zweifelnd auf das Papier. Zu viele dunkle Federstriche zeugten davon, dass diese Aufstellung zu nichts mehr zu gebrauchen war und ganz neu geschrieben werden musste. „Ich habe einen besseren Vorschlag: Kommt mit uns zum 'Tannenzapfen' und wir werden Euch bei dieser Liste helfen.“
Athos und Porthos nickten zustimmend, nur d'Artagnan selbst zögerte und warf einen Blick hinauf zu einem der Fenster des Hôtels. Dahinter lag das Arbeitszimmer Monsieur de Trévilles. Von dort hatte d'Artagnan einst den Graf de Rochefort erspäht und wäre in rasendem Zorn sofort hinunter auf die Straße gesprungen, um die Verfolgung aufzunehmen, hätte das Fenster nicht hoch oben gelegen. D'Artagnan wandte sich ab und gab sich unbekümmert. „Danke für das Angebot. Doch ich will euch den Abend nicht mit langweiligen Wachablösungen verderben. Geht ohne mich.“
Aramis wollte schon widersprechen, ein durchdringender Blick Athos' hielt ihn zurück. Nur widerwillig gab er nach. „Nun, gut. Aber wir haben Euer Versprechen, dass Ihr Euch dann zu uns gesellen werdet, sobald diese Liste vollständig ist.“
„Das habt ihr, bei meiner Ehre!“ D'Artagnan nickte den Freunden aufmunternd zu. „Entschuldigt mich bis dahin. Ich nehme den Plan mit nach Hause, dort herrscht kein Trubel wie hier.“ Der Leutnant grüßte zum Abschied und trat durch den weiten Torbogen hinaus auf die Rue du Vieux-Colombier. Die drei übrigen Musketiere blieben zurück, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.
Noch jemandem waren die schleichenden Veränderungen im Hôtel de Tréville nicht entgangen. Kardinal Richelieu sah vom Bericht in seinen Händen auf und musterte mit ernster Miene sein Gegenüber. Der Graf de Rochefor schüttelte andeutungsweise den Kopf. Er konnte keine Erklärung für den, zugegeben ungewöhnlichen, aber nicht neuen, Inhalt des Schriftstückes anbieten, das ihm eben von einem seiner Agenten zugesteckt worden war.
Im Arbeitszimmer Seiner Eminenz wurde es sehr still und je länger das Schweigen andauerte, desto unbehaglicher wurde es Rochefort in seiner Haut. Der Kardinal erwartete offensichtlich mehr Klarheit in dieser Sache, aber sein Stallmeister sah sich außerstande eine Antwort zu finden, die den mächtigsten Mann Frankreichs zufrieden gestellt hätte. Auf der Suche nach einer Erklärung glitt Rocheforts Blick durch den Raum, streifte die Titel der zahlreichen Bücher und Codices in den Regalen, wich dem Portrait Richelieus aus und blieb schließlich an einem Gobelin hängen. Das Motiv war neu, die Schlacht um La Rochelle. Die Stadt im Hintergrund ganz und gar verheert, vorne die triumphierenden Sieger über den verbrannten Leichen ihrer Feinde, die Standarten spitz und hoch gereckt. Der König nahm die Kapitulationserklärung eines elenden Aufständischen entgegen. An seiner Seite, stets präsent und über Frankreich wachend, streng und keinen Widerspruch duldend: Der Erste Minister. Richelieu trug die volle Kriegsrüstung nicht anders als die rote Soutane. Soldat und Diplomat. Das Motiv zeigte ihn mit ergrautem Haar und hagerem Gesicht. Mit stolzer Haltung trotzte er auf dem Gobelin seinem geschwächtem Körper in der wirklichen Welt. Nichts und niemand brächte ihn leicht zu Fall. Zweifelsohne ein außergewöhnlicher Mensch.
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