Mit unserer Eroberung verzogen wir uns in einen Häusereingang, um aus der brennenden Sonne zu entfliehen. Nick fotografierte unser Eis mit dem Handy, bevor er sich neben mir niederließ. Er tippte noch kurz auf seinem Display herum. Wahrscheinlich lud er das Bild gleich irgendwo hoch. Vorsichtig probierte ich mein Lakritzeis. Angeekelt verzog ich das Gesicht. Es schmeckte genauso widerlich wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich nahm einen großen Löffel und füllte die Eiscreme einfach in Nicks Becher um.
„Heute ist wohl mein Glückstag! Ich nehme gerne alles.“
„Kannst du gerne haben.“ Mit jedem Löffel, den er von mir bekam, wurde sein Grinsen breiter.
„So sollten wir öfter Eis kaufen.“
„Dann ziehe ich aber etwas anderes an“, protestierte Tom, der offensichtlich ziemlich mit seinem Fruchtbecher zu kämpfen hatte.
Nick hielt mir einen Löffel mit Schokoladeneis entgegen und ich probierte. Es schmeckte richtig stark nach Schokolade und war wunderbar cremig. Mir entging nicht, dass er auf meine Lippen schaute, als ich mir ein bisschen Eis mit dem Finger wegwischte.
„Der Trödelmarkt war echt toll“, stellte ich fest. Irgendwie auch ein bisschen, um ihn abzulenken.
„Freut mich, dass es dir gefallen hat.“
Ich probierte das Waldmeistereis. Es war richtig lecker. Nur an einigen kleinen Stellen kam der Lakritzgeschmack leider noch etwas durch.
„Was mochtest du besonders?“, wollte Nick wissen.
„Das alle so freundlich waren, die Vielfalt an Angeboten und die Zimtwaffeln. Dazu war es auf eine Art ruhig dort, obwohl so viel los war.“ Das klang vielleicht etwas seltsam, aber obwohl es richtig voll gewesen war, war es mir dort überhaupt nicht hektisch oder laut vorgekommen, sondern einfach total entspannt. Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl mich zwischen so vielen Menschen zu befinden.
„Ich weiß was du meinst.“
„Am liebsten hätte ich echt einen Großeinkauf gemacht. Wenn ich eine eigene Wohnung habe, dann werde ich dort ganz viel kaufen.“ Schon seit Jahren hatte ich einen ganz genauen Plan für meine erste eigene Wohnung. Eine Mischung aus skandinavisch modern und den 70er Jahren. Auf dem Mauerparkflohmarkt würde ich auf jeden Fall fündig werden. Dann müsste ich aber mit jemandem dort hin fahren, der ein Auto besaß, damit ich auch Möbel oder andere sperrige Dinge transportieren konnte.
„Wohnst du noch zu Hause?“
Ich nickte. Aber hoffentlich nicht mehr lange. „Du wohnst in einer WG, oder?“
„Ich wohne mit Jacob zusammen. Ich bin ausgezogen, als ich siebzehn war. Meine Eltern haben mich quasi rausgeschmissen.“
„Warum das denn?“ Das hätten meine Eltern niemals getan. Im Gegenteil: Sie wollten, dass ich bei ihnen wohnen blieb, bis ich mein Studium abgeschlossen hatte. Oder am liebsten noch länger.
„Sie halten überhaupt nichts von meiner Musikerkarriere.“
„Dann wissen sie einfach nicht, was du drauf hast!“ Flirtete ich da gerade? „Ich würde auch gerne bald ausziehen.“ Schnell wieder zurück auf sicheres Terrain.
„Es hat viele Vorteile“, stimmte Nick zu. Genau! Endlich machen, was ich möchte. Nicht ständig unter Beobachtung stehen. Eis zum Frühstück, wenn ich Lust darauf habe und schlafen bis zum Nachmittag.
„Seid ihr fertig?“, unterbrach Tom unser Gespräch. Er klang ziemlich ungeduldig.
„Gleich.“ Sah er nicht, dass ich mein Eis noch nicht ganz aufgegessen hatte? Wahrscheinlich waren sie schon ewig fertig. Aber wenn man so viel redete, ging es eben nicht so schnell. Tom stellte seinen Becher auf die Stufe unter meinen Füßen. Eine orangene, zähflüssige Masse schwamm darin herum. Er hatte sein Eis nicht aufgegessen. Schade um das Zitroneneis.
„Wir wollten doch noch an den neuen Songs arbeiten“, drängelte Tom weiter.
„Sofort! Lass Mia doch noch eben aufessen.“
„Es gibt bald neue Songs?“, fragte ich, während ich den Eisbecher auskratzte.
„Ja, es wird hoffentlich nicht mehr lange dauern. Wir beeilen uns.“
„Wie entstehen eure Songs?“ Ich hatte mich schon oft gefragt, wie ein Song geschrieben wurde, wenn ich Musik hörte. Wie die Texte geschrieben wurden wusste ich ja schon, aber nicht wie die Melodie dazu entstand.
„Songs entstehen bei uns so vielfältig, dass ich keine klare Methode beschreiben kann. Grundsätzlich wissen wir aber, welche Stimmung uns, unserer Musik und unserem Treiben zugrunde liegt. Auf dieser Basis schaffen Tom an der Gitarre oder Jan am Schlagzeug sogenannte Pattern, die sie mir zum Texten als Mp3 zur Verfügung stellen. Darauf schreibe ich auf, was mir gerade auf der Seele brennt.“ Ich hörte Nick so gerne zu, wenn er mir etwas über seine Musik erzählte. Meinetwegen müsste er nicht damit aufhören. Zu meinem Glück setzte er seine Antwort noch fort: „Häufig begleite ich das dann mit meiner Akustikgitarre. Diesen Input bespreche ich dann mit Jan, wir sortieren Idee und roten Faden der Geschichte, schmeißen locker fünfzig Prozent des Inhalts weg und stimmen uns gesanglich auf den textlichen Kern ein. Dann nehmen wir auf. An der Stelle entscheidet sich ganz oft erst, wie ich es schlussendlich singe. Du spürst, ob das Gefühl zum Text passt, wenn du es live einsingst. Später entwickeln sich entlang solcher Demos dann auch noch weitere Gitarrenarrangements, die vorher anders waren. Alles in allem nennen wir das deswegen einen sehr dynamischen Prozess. Nichts ist in Stein gemeißelt, alles wird mindestens dreimal durchdacht. Think out of the box.“
„Du redest zu viel“, unterbrach Tom ihn. Da konnte ich ihm absolut nicht zustimmen. Ich hätte Nick gerne noch weiter zugehört. Als wir unser schattiges Plätzchen verließen, empfing uns die Hitze wie eine Wand.
„Also spielst du immer Gitarre während du textest?“
„Ich schreibe Songs meistens mit Gitarre da ich so schneller einen Song fertigstellen kann, die Stimmung des Songs immer direkt bei mir habe und Verslängen besser einhalten kann.“
Langsam liefen wir zur Eberswalderstraße und ich quetschte Nick noch weiter aus. Es war so interessant etwas über Musik zu erfahren, was einem nur Musiker erklären konnten. Zu schnell kamen wir an der Haltestelle an, wo ich in die U-Bahn Richtung Ruhleben einstieg, während die Jungs auf der Gegenseite auf ihre Bahn warteten.
*
„Ihr habt was?“ Paula prustete laut los, als ich den Bericht vom Eis essen abgeschlossen hatte. „Dieser Nick hat sie ja nicht mehr alle!“
„Ich musste Lakritzeis bestellen. Weißt du wie ekelhaft das ist?“ Bei der Erinnerung daran, verzog ich das Gesicht. Paula lachte jetzt noch lauter. Sie kriegte sich gar nicht wieder ein. Sogar ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und gluckste vor sich hin. „So was habe ich ja noch nie gehört.“ Ihr Lachen steckte mich an. „Dieser Nick scheint wirklich ganz schön verrückt zu sein.“
„Ein wenig.“ Ich musste in mich hinein lächeln. Gerade das mochte ich ja an ihm.
„Läuft da vielleicht doch was zwischen euch?“, fragte Paula völlig unverblümt.
Ich schüttelte den Kopf. „Wir verstehen uns einfach gut.“
„Und da ist wirklich nicht mehr?“
„Nein, ich kenne ihn doch gar nicht. Hier schneide lieber die Paprika.“ Ich schob eine orangefarbene Paprika zu ihr herüber. Paula hatte schon längst mehrere Tomaten und eine Aubergine gewürfelt, während ich immer noch mit meinem Gemüse kämpfte. Ich mochte Nick, aber ich wollte einfach nur mit ihm befreundet sein.
„Hast du schon gelernt?“ Meine Paprika war endlich in unförmige Würfel geteilt.
„Für Sprachwissenschaft?“ Paula stöhnte. „Ich kann mir das einfach nicht merken.“
„Wir können ja gleich noch ein paar Aufgaben durchgehen.“ Ein Fragenkatalog von über siebzig Fragen wartete auf uns.
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