Titel Seite
Annika Gehrt
GEDANKEN IN ZEILEN
Für Flummi
© Annika Gehrt, 2017
Alle Rechte vorbehalten
Titelbild: Annika Gehrt
Dieser Roman ist ausschließlich ein Werk der Fiktion. Namen, Charaktere sowie die Handlung sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit realen Personen sind rein zufällig
Livemusik, eine rockige Band und mit meiner besten Freundin feiern, das ist alles was ich zum Glücklichsein brauche. Wenn man es ganz genau nimmt: der Club muss klein und nicht zu voll, die Musik tanzbar und die Stimmung ausgelassen sein.
An diesem Abend trafen all diese Punkte zu: Paula und ich befanden uns auf einem Konzert. In den Club passten nicht mehr als hundert Leute und die erste Band heizte bereits ordentlich ein. Die Temperatur war jetzt schon auf Saunaniveau gestiegen. Mein Gesicht glühte und ich fragte mich, wie ich die nächsten beiden Bands überhaupt noch überstehen sollte. Doch genauso musste es sein: Auspowern, sich von der Musik leiten lassen, alles vergessen, nur im Hier und Jetzt sein – das konnte nur Musik.
„Das ist der letzte Song für heute“, schrie der Sänger ins Mikrofon. „Gebt nochmal richtig Gas!“ Das musste er uns nicht zweimal sagen. Wir genossen die Musik und ließen uns fallen.
Nach dem letzten Lied verabschiedete ich mich auf die Toilette. Bevor ich diese betrat, versicherte ich mich noch ein zweites Mal, dass ich auch wirklich die Damentoilette erwischt hatte. Das machte ich immer, seit ich einmal aus Versehen auf der Falschen gelandet war und deswegen ziemlich entsetzte Blicke geerntet hatte. Doch als ich jetzt die Tür öffnete, sah ich am Waschbecken einen jungen Mann stehen. Verdammt! War ich doch falsch? Nein, das konnte wirklich nicht sein.
1. Hatte ich extra zweimal nachgeschaut. Die Figur auf dem Türschild trug ohne Zweifel ein Kleid.
2. War ich schon oft in diesem Club gewesen und bisher hatte sich die Frauentoilette immer auf der linken Seite befunden.
„Nicht erschrecken!“ Der Typ lächelte mich an. „Ich singe mich nur ein.“
Auf der Damentoilette? Er musste die Verwirrung in meinem Gesicht gesehen haben, denn er fügte hinzu: „Hier werde ich weniger gestört.“
Jetzt war ich wenn möglich noch verwirrter.
„Ist nicht auf dem Frauenklo immer viel mehr los?“ Ist das nicht allgemein bekannt? Frauen müssen immer anstehen, Männer nie.
„Bei den Männern hatte ich gar keine Ruhe“, entgegnete der Musiker und verließ den Toilettenvorraum.
Als ich von der Toilette kam, stand er immer noch vor der Tür, an die Wand gelehnt und nahm gerade einen Schluck aus einer Tasse. Irgendeine dampfende Flüssigkeit, die nach Ingwer roch. Tee? Trinken Rockmusiker nicht nur Bier oder härteren Alkohol, wie zum Beispiel Wodka?
„Da ist noch jemand drauf, oder?“, erkundigte er sich.
Ich nickte. „Ich hätte gerne gehört, wie du dich einsingst.“
„Da gibt es nicht viel zu hören.“ Er lächelte wieder.
„Ich hätte es trotzdem gerne gehört.“ Ich stellte es mir ziemlich spannend vor. Schließlich hatte man normalerweise nie die Möglichkeit einem Musiker beim Einsingen zu lauschen.
„Das hört sich wirklich nicht besonders toll an. Eigentlich stimme ich nur von einem Ausgangston vier weitere Töne in der Reihenfolge Grundton, Ganzton, Halbton, Ganzton, Ganzton auf- und wieder absteigend an. Dann erhöhe ich den Grundton jeweils um eine kleine Sekunde und wiederhole die Übung. So wärme ich meine Stimmlippen von unten nach oben auf. Mein tiefstmöglicher Ton als lyrischer Tenor ist das ‚A’. Wichtig dabei ist die richtige Adressierung der Stimmlippen im Kehlkopf. Mit dem Mund forme ich für jede Übung abwechselnd ein ‚U’ und danach ein ‚I’. Der Ton muss von ganz weit hinten aus dem Rachenraum locker aus den Stimmbändern schwingen.“
Ich schaute ihn verblüfft an. Mit so einer langen Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte ihm auch nicht so ganz folgen, da ich von diesem Thema wirklich überhaupt keine Ahnung hatte. Aber interessant war es trotzdem.
„Klingt kompliziert.“
„Das zu erlernen ist in der Tat ein längerer Prozess und bedarf der Hilfe eines Gesangslehrers.“ Es war wirklich nicht zu überhören, dass der Sänger vor mir aus Berlin kam.
„Wie lange musst du dich denn einsingen?“, fragte ich ihn. Wann hatte man schon mal die Chance so etwas zu erfahren? Im Gegensatz zu ihm berlinerte ich kaum, obwohl die Hauptstadt ebenfalls meine Heimat war.
„Mindestens 20 Minuten. Das ist aber abhängig von der Konzertlänge, der Tageszeit und genereller stimmlicher Belastung.“ Er lächelte mich an. Obwohl die Beleuchtung ziemlich gedämpft war, fiel mir auf wie strahlend hellblau seine Augen waren. Die Kapuze seines senffarbenen Pullovers hatte er über den Kopf gezogen, doch ein paar dunkelblonde Strähnen schauten darunter hervor.
„Ich muss mich jetzt mal weiter einsingen“, riss der Musiker mich aus meinen Gedanken. Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu lange angesehen.
„Okay“, antwortete ich. Irgendwie verschlug er mir ein bisschen die Sprache.
„Bis später.“ Er warf mir noch ein Lächeln zu und verschwand wieder auf dem Frauenklo. Ich blieb noch einen kurzen Moment stehen um diese Begegnung zu verarbeiten. Irgendwie fühlten sich meine Knie ein wenig weich an. Mein Blick fiel auf die Tür, die sich gerade hinter ihm geschlossen hatte. Ich hätte ihm wirklich gerne zugehört, doch durch die schwere Metalltür drang kein Ton. Aufgeregt kehrte ich zu Paula zurück. Sie saß auf der Fensterbank, mit einem Bier in der Hand, wobei sie etwas einsam aussah.
„Sorry, dass es so lange gedauert hat.“
„War die Schlange so lang?“
„Nee, aber ich habe den Sänger der nächsten Band getroffen.“
Paula grinste mich an. Ihr war wohl die Euphorie in meiner Stimme eben so wenig entgangen wie mir.
„Auf dem Klo?“
„Er hat sich dort eingesungen.“
Meine Freundin schaute mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich konnte das Grinsen auf meinem Gesicht nicht abstellen. In diesem Moment betraten zwei Männer die Bühne. Einer setzte sich ans Schlagzeug, der andere schnappte sich eine E-Gitarre aus dem Gitarrenständer. Sie war schwarz mit einigen Buchenblättern darauf. Was für eine tolle Gitarre! Die würde ich ihm am liebsten klauen. Wir beobachteten sie bei ihrer letzten Überprüfung des Sounds, wobei Paula mich zwischendurch noch mit Fragen zu meiner Begegnung ausquetschte.
Schwarz-weiß-karierter Fußboden, blau leuchtende Scheinwerfer. Das Schlagzeug begann. Nebel vermischte sich mit der heißen Luft. Ein Instrument nach dem anderen setzte ein. Eigentlich waren Paula und ich wegen der letzten Band des Abends hier, doch jetzt war meine Vorfreude auf Großstadtleben beinahe genauso groß. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Sänger endlich auf die Bühne stürmte. Irgendwann hatte ich schon mal ein Video von ihnen auf Youtube gesehen und war richtig gespannt, wie sie sich live anhörten. Vor allem jetzt, wo ich den Sänger gerade kennengelernt hatte. Endlich nahm er am Mikrofon Platz und aufgeregt lauschte ich den ersten Zeilen. Es klang völlig anders, als das Lied, das ich von ihnen gehört hatte. Damals hatten sie noch auf Englisch gesungen, jetzt hatten sie zu Deutsch gewechselt. Die Gesangssprache zu ändern, schien mir momentan so etwas wie eine Modeerscheinung zu sein. Die meisten unbekannten Bands, die ich kannte, hatten auf Englisch angefangen und sangen seit kurzem auf Deutsch, was natürlich auch eine Änderung des Bandnamens mit sich trug.
„Vielen Dank Crystal Club! Wunderschön! Wir sind Großstadtleben .“
Nach zwei weiteren Songs machte der Sänger eine Pause: „So jetzt stelle ich euch mal meine Band vor. Zu meiner linken steht unser Gitarrist Tom. Ganz netter Kerl. Den kenne ich schon seit…“ Seine Stirn legte sich in Falten, während er überlegte.
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