Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der Fall ist, und jetzt überlegen Sie mal: Wenn Sie eine Möglichkeit hätten, jemanden, der Ihnen so nahesteht, wie Ihre eigene Mutter, wenn Sie die Macht hätten, diesen Menschen aus einem Sumpf menschlicher Körperflüssigkeiten, in den er schuldlos geraten ist, herauszuziehen dadurch, dass Sie ein paar Sachen stehlen und verkaufen? Würden Sie nicht auch die Gelegenheit ergreifen und nachts in den Lagerraum des Supermarktes einsteigen, um ein paar Stangen Zigaretten zu klauen, wenn Sie könnten?
Erzählen Sie mir nichts, Sie würden es tun! Und es würde niemals auffallen, weil Sie immer nur wenig nehmen und dort ganze Paletten lagern, die gegen Diebstahl versichert sind, und Sie würden Ihre Spuren verwischen, niemand könnte Ihnen jemals auf die Schliche kommen. Mit dem Rücken zur Wand, den Arsch zusammengekniffen, damit Sie niemandem Geld dafür abnehmen müssen, damit er seinen Schwanz in Sie reinstecken darf, würden Sie es tun, glauben Sie mir.
Sicher, meine Mutter war nicht »schuldlos«, wie ich es mir (und Ihnen) eben wieder so schöngeredet habe. Nein, hätte sie sich doch einfach einen anderen Mann ausgesucht, einen ordentlichen, guten, ehrlichen Bürger mit geregeltem Einkommen und gutem Leumund, wäre das alles nicht passiert. Wenn Sie das wirklich meinen, waren Sie wahrscheinlich nie verliebt, haben nie selbst gespürt, was es heißt, wenn man weiß, dass etwas gut ist. Nur dass man natürlich nie die Garantie hat, dass etwas auch gut bleibt …
Erst Jahre später, ich war vielleicht vierzehn Jahre alt, Timo unterhielt uns mehr schlecht als recht mit dem Geld, das er anbrachte, aber wir kamen über die Runden, erfuhr ich, dass es noch diese andere Geldquelle gab und welcher Art sie war. Ich saß nach der Schule in der Küche beim Essen, meine Mutter lief nervös von einer Ecke in die nächste, irgendetwas schien in ihrem Zeitplan dieses eine Mal nicht funktioniert zu haben.
Sie musste ihren »Gönner« schon seit Monaten, wenn nicht Jahren haben, doch niemals hatte ich etwas davon mitbekommen, immer war sie da, wenn ich von der Schule kam, nichts machte mich misstrauisch, gab mir Anlass zu glauben, die Abende mit »Freundinnen«, von denen ich nie jemals eine zu Gesicht bekam, seien nicht das, was ich mir darunter vorstellte.
Wieso hätte mich meine Mutter auch anlügen sollen? Ganz einfach: um mich vor der Wahrheit zu schützen, und die kam an diesem Tag auf mich zugerast wie ein Sandsturm, den man einatmet, der einem die Augen tränen lässt und nach dem man verändert zurückbleibt. Falls man überlebt.
Ich saß also am Tisch und löffelte eine Suppe, in die ich eine Scheibe Brot gelegt hatte, meine Mutter sprang um mich herum, machte einen überaus nervösen Eindruck und sah mich kaum an. Ich fragte, was sie vorhabe, worauf sie nur kurz antwortete, dass sie noch ausgehe. Ich betrachtete sie von der Seite und konnte nicht sofort sagen, was anders war an ihr, was an dem Bild nicht stimmte, aber dann fiel es mir auf: Sie trug Ohrringe und war geschminkt. Normalerweise bemalte sie sich nicht und legte auch keinen Schmuck an, wenn sie abends wegging. Auf meine Frage, warum sie so feierlich aussehe, erhielt ich die Antwort, dass sie ins Theater gehe, schon spät dran sei und jetzt sofort los müsse. Kaum war das letzte Wort verklungen, hupte jemand vor dem Haus, und sie stürzte hinaus, ich hinterher.
Draußen stand ein dunkelgrüner Schlitten, auf den meine Mutter zulief und in den sie einstieg. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann, den ich nicht kannte. Ich hatte ihn ein paar Mal in der Stadt gesehen, er war mir nur deswegen aufgefallen, weil er mich ansah, als müsste er mich kennen und mich jeden Moment ansprechen, aber immer ging er nur vorbei. Jetzt erkannte ich ihn wieder und sah meine Mutter, die ihn energisch anschrie.
Ich konnte nichts hören, da sie die Autotür schon wieder geschlossen hatte, aber wahrscheinlich war sie wütend, weil er vor ihrem Haus gehalten hatte und damit die Gefahr beschwor, dass sie jemand zusammen sah, was dann ja auch passierte, denn ich stand nur wenige Meter daneben und sah ihn mir an.
Ich wusste nicht sofort, was hier gespielt wurde, aber ich konnte es mir schnell zusammenreimen. Die Ohrringe, die Schminke, der Mann. Wenn es ein Freund war, wieso kannte ich ihn dann nicht? Woher kam das Geld, das meine Mutter für uns ausgab? Die kleine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Drogerie, die sie bekommen hatte, konnte dafür nicht verantwortlich sein. In meinen Gedanken spielten sich die widerlichsten Szenen ab, die meine Mutter beschmutzten und mit ihr das Geld, das sie bekam und alles, was wir davon kauften, was wir aßen, die Kleidung, die wir trugen.
Ich stand vor dem Haus und sah diesen Kerl mit meiner Mutter argumentieren, hoffte, sie würde aussteigen und mir alles erklären, mir sagen, dass ich mich irrte, aber das passierte nicht. Ich starrte die beiden wie versteinert an, konnte mich nicht rühren, hätte ihn am liebsten aus seiner Karre gezogen und windelweich geprügelt, ihn angebrüllt, er solle meine Mutter in Ruhe lassen, seinen Wagen demoliert und angezündet, bis die Nachbarn, durch den Lärm aufmerksam geworden, die Polizei riefen, die mich abführen würde. Aber das alles geschah nicht, ich konnte mich nicht bewegen, sah die Szene wie auf einer Leinwand sich vor mir abspulen, war wie gelähmt, verletzt durch die Lügen meiner Mutter, ihr verlogenes Schweigen, und mir war kalt vor Scham.
Ich fühlte jeden Vorhang hinter jedem Fenster der Nachbarschaft heimlich zur Seite geschoben und tausend Augen uns beobachten und nicken und wissen. Schließlich wurde der Wagen angelassen, er fuhr los. Erst jetzt löste sich mein Körper aus dem Gefängnis seiner Eisesstarre, und ich kotzte heulend in den Rinnstein.
Ich weiß nicht, warum ich mich in diesem Moment nicht rühren konnte, warum ich da stand, als wäre ich aus Stein gemeißelt, aber ich habe eine Vermutung: Der Mann auf dem Fahrersitz, der Kerl, der sie aushielt und bezahlte für Sachen, die ich mir nicht vorstellen möchte, sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Er trug einen Anzug und ein weißes Hemd, er war frisch rasiert, seine Haare gewaschen und gescheitelt, er sah gepflegt aus, fast könnte man sagen: sympathisch.
Wie oft habe ich mir gewünscht, es hätte ein fettes, dreckiges Schwein am Steuer gesessen, so einer, wie man meint, dass so ein typischer Urlaubskinderficker aussehen müsste. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich bestimmt nicht so angewurzelt da gestanden, sondern gehandelt und die Sau am gestreckten Arm ausbluten lassen.
So aber war ich wütend auf mich selbst, dass ich nichts tun konnte, viel mehr noch als enttäuscht von meiner Mutter, von der mich ab sofort ein Ekelgefühl trennte, das mich zurückzucken ließ, wenn sie mich berührte und von dem sie wahrscheinlich annahm, es sei der in einem bestimmten Alter übliche Widerwillen eines Sohnes gegen die Zuneigung seiner Mutter. Ich habe sie nie auf den Abend angesprochen.
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