„Es gibt zwischen Himmel und Erde mehr, als wir zu sehen vermögen“, sage ich.
Anne schaut mich verwirrt an. Sicher ist das nicht die Antwort, die sie erwartet hat.
Ich weiß nicht, woher die Worte kommen, aber es fällt mir auf einmal ganz leicht, über ein so verrücktes Thema zu sprechen. „Das Auge des erwachsenen Menschen ist für viele Dinge blind. Unter uns leben andere Wesen, große und kleine, gute und auch böse. Manche kennt man aus Märchen, Mythen und Fantasiegeschichten, andere sind völlig unbekannt und tauchen in keinem Buch und keiner Erzählung auf.“
Es sprudelt nur so aus mir heraus. Gespannt lausche ich meinem eigenen Vortrag. „Zu diesen Wesen gehören auch Drachen. Und das vorhin, das war ein Drache. Wenn Drachen irgendwo auftauchen, steigt die Umgebungstemperatur ein paar Grad. Das hast du auch gemerkt. Es gibt Drachen, die werden vom Guten geleitet oder vom Bösen gesteuert. Dieser Drache eben hat mich bedroht.“
Stille. Keine Reaktion. Weder von Anne, noch von
mir selbst. Ich bin fassungslos, woher ich diese Informationen habe. Und Anne scheint es nicht besser zu gehen. Mit dem Unterschied, dass sie den Drachen nicht gesehen hat und mir diese eigenartigen Erklärungen glauben muss. Ich selbst suche in meinen Gedanken nach weiteren Informationen, aber da kommt nichts mehr. So als wäre ein Buch aufgeklappt, ein Absatz daraus laut vorgelesen und das Buch danach wieder zugeklappt worden. Jetzt fühlt es sich so an, als würde jemand eine Hand auf das Buch halten, sodass ich es sicher nicht mehr öffnen kann. Zu, fertig, aus, vorbei die Geschichtsstunde.
Anne krallt sich mit beiden Händen am Lenkrad fest, ihre Knöchel sind weiß. Wir sind noch immer keinen Meter gefahren. Der Motor läuft mit einem gleich-mäßigen, beruhigenden Brummen, und Anne starrt mich wortlos an. Die mit allen Wassern gewaschene, schlagfertige und weltgewandte Anne an den Punkt vollkommener Fassungslosigkeit zu bringen, ist echt schwer. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, ist eine Vorzeige-Realistin. Ich habe ihr früher schon weitaus weniger mystische Dinge erzählt und dafür nur Gelächter geerntet.
Doch heute sagt Anne erst einmal nichts. Mechanisch löst sie die Handbremse, guckt in den Rückspiegel, schaltet auf Drive. Das Auto rollt an. Kurz vorm Einbiegen in die Straße tritt sie ruckartig auf die Bremse, sieht mich an, holt Luft, setzt zum Sprechen an, aber es kommen keine Worte aus ihrem Mund, nur ein komisches „ahm“. Sie schüttelt den Kopf und steuert das Auto endgültig auf die Fahrbahn.
Ich hänge immer noch an dem Bild mit dem Buch. Ich will mehr wissen. Wenn in diesem Buch steht, was ich wissen muss, dann muss ich es wieder aufbekommen. Der Drache war real. Ich habe ihn gesehen, gehört, gerochen und gespürt. Er muss echt gewesen sein.
Nach ein paar Kilometern Fahrt weitet sich das Tal und das Restlicht erhellt unser Urlaubsziel. Man kann das Leuchten der Laubbäume noch erkennen, die Wälder wirken schon schwarz. Wo der Drache wohl ist? Lebt er hier in der Nähe? Ja, das hat er doch gesagt, es sei „sein Wald“. Wo schlafen Drachen? Leben sie alleine oder in Gruppen? Gibt es männliche und weibliche Drachen?
Wir fahren an einem großen Hof vorbei, wo Betonmüll und Metallschrott gelagert werden. Dieser Haufen Müll passt überhaupt nicht in diese sonst so natürliche Land-schaft. Welche Menschen leben bloß hier? Ob dort wohl dieser Drache schläft? Ein merkwürdiger Gedanke. Was hat denn ein Drache mit einem Hof voller Stein- und Metallberge zu tun? Komisch, wie mein Gehirn so etwas zusammenbringt. Der Drache ist ein Naturwesen – er wird von Menschen unberührte Natur brauchen, nehme ich mal an. Die Besitzer des Hofes legen darauf anscheinend nicht so viel Wert.
Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Ich hoffe nur, dass zwischen diesem Hof und unserer Unterkunft ein paar Kilometer liegen. So einen Ausblick muss ich in meinem Urlaub nicht haben und ich möchte auch nicht jeden Tag daran vorbeispazieren. Zum Glück fahren wir noch fünf Minuten weiter, biegen dann ab in ein weites, flaches Tal. Auf dem Schild steht „Lindenau“. Ich wundere mich – wir wollten doch nach Achslach. Das Navi scheint aber zu wissen, wo wir sind. Es leitet uns durch die Ortschaft hindurch bergauf. Wir lassen die letzten Häuser des Orts hinter uns, es wird immer einsamer. Die Straße wird zu einem engen Schotterweg und endet direkt in einem Hof. Die Frauenstimme aus dem Navi lispelt: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Wir stehen vor einem Bauernhof, der sehr alt wirkt, aber schön hergerichtet ist, zumindest soweit man das im Scheinwerferlicht des Autos erkennen kann. Das Erdgeschoss ist aus Stein gemauert, der erste Stock aus dunklem Holz. Kleine Fenster, aus denen
die Lichtstrahlen zwischen den bunten Vorhängen auf den Hof fallen, außen dazu passende Fensterläden. Davor Blumenkästen mit Herbstblumen und zwei alte Holzbänke, daneben ein kleiner eingefriedeter, gepflegter Bauerngarten. Vor dem Haus ein geräumiger Parkplatz. Idyllisch ist das Wort, das mir spontan dazu einfällt.
So begrüßt uns der „Bergbauernhof“.
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