Julius van Caspar
Das Erwachen der Formel
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Inhaltsverzeichnis
Titel Julius van Caspar Das Erwachen der Formel Dieses ebook wurde erstellt bei
01 Video
02 Blumen
03 Visionen
04 Konferenz
05 Rede
06 Klingel
07 Computer
08 Gier
09 Verfassungsschutz
10 Nacht
11 Wahl
12 Verhör
13 Gerechtigkeit
14 Schule
15 Talkshow
16 Clemens
17 Jakob
18 Polizei
19 Ago
20 Rache
21 Vertreibung
Impressum neobooks
Das Erwachen der Formel
von
Julius van Caspar
Kurz vor seinem Tod richtete Felix Ballhorn die Kamera auf sich und lachte aus vollem Herzen „Hier ist euer Herr Schmitz“, redete er mit zuckriger Stimme los. „In letzter Zeit bekomme ich wieder tausende Nachrichten. Mit Morddrohungen, Verschwörungstheorien und Sexfantasien. Und heute lese ich euch die schlimmsten Nachrichten vor. Damit wir alle was zu lachen haben.“
„Herr Schmitz“, so nannte sich Felix Ballhorn im Internet. 50.000 Abonnenten hatte er und es wurden täglich mehr. Zum Leben reichte es zwar nicht, doch irgendwann würde er die magische „Millionen Marke“ knacken, dachte er und drückte seine Daumen dabei zusammen, bis ihm vor Glück die Finger schmerzten.
„Hört mal, was mir gestern geschickt wurde.“ Er begann von einem zerknitterten Zettel vorzulesen:
„Das ist die Vision einer neuen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die von einer Idee regiert wird. Das ist die Vision eines intelligenten Computerprogramms, das uns Menschen beherrscht. Für globalen Frieden und Gerechtigkeit. Das ist die Vision der Formel.“
Grinsend rückte er die Kappe auf seinem Kopf zurecht und streckte den Zettel nach vorne. „Da ist wohl einer nicht zum Arzt gegangen – trotz der vielen Visionen. Aber einen Moment, es wird noch besser.“
„Die Menschheit hat versagt. Machen wir so weiter, rotten wir uns aus. Lasst uns über ein System nachdenken, das uns retten kann. Vor unserer eigenen, menschlichen Dummheit! Ein Computer-System, das alle Nationen vereint. Das System der Formel.“
Felix Ballhorn verbeugte sich und zerknüllte prustend den Brief. Er stoppte die Aufnahme und sein Grinsen war verschwunden. Was für eine hirnlose Scheiße, dachte er. Jeden Tag hat irgendwo auf der Welt irgendjemand eine gefühlt geniale Idee, möchte die Menschheit retten, oder eigentlich nur sich selbst. Genau wie dieser Spinner hier. Wen interessiert das schon? Wir sind zu viele, dachte Ballhorn, während er nach seinem Manuskript für den nächsten Teil des Videos suchte. Zu viele Menschen, die zu viel Gedankenmüll produzieren, zu viele Geschichten, zu viele Daten für ein wabbliges Gehirn und zu viele, die stinkenden Abfall aus sich herauspressen. Wichtig ist es nicht unterzugehen. Sich dagegen zu wehren – mit aller Kraft – ein Niemand zu sein. Wie könnten wir auch alle jemand sein, bei 7,47 Milliarden Leuten, die über den Planeten stolpern? Je größer eine Masse ist, desto schwieriger wird es aus ihr herauszustechen. Und umso erdrückender ist es, nur ein Schatten dieses hektischen Schwarms zu sein. Felix Ballhorn stand kurz vor seinem 30sten Geburtstag. Er musste sich beeilen, endlich außergewöhnlich zu werden.
Ein Quietschen ließ ihn aufschrecken. Es klang, als wäre es direkt aus seinem Zimmer gekommen. Hinter ihm ragte ein Regal mit Computerspielen, Comics, und originalverpackten Actionfiguren bis unter die Decke. Daneben lehnte eine lebensgroße Stormtrooper-Figur. Das Soldatenkostüm mit weißer Plastikrüstung und Helm war zu so etwas wie seinem Markenzeichen geworden und immer im Hintergrund seiner Videos.
„Hallo?“, rief er und lauschte gegen die Wände. Bis auf die eigenen Atemzüge und das Pochen an seinem Hals, war da nichts. Draußen rauschte ein Auto vorbei. Er tapste in den Flur und sah sich in Bad und Küche seiner 33 Quadratmeter Einzimmerwohnung um. „Hallo“, flüsterte er. Niemand antwortete – nicht einmal ein verdächtiges Geräusch. Er nahm den Schlüssel von der Kommode, sperrte zweimal ab und ließ ihn stecken. Der Schuhabtreter lag schräg im Flur und er rückte ihn mit dem Fuß gerade. Sein Herz pochte noch immer zu laut und er drückte die Hand dagegen, um es zu beruhigen. So wie das damals seine Mutter gemacht hatte, wenn er nicht einschlafen konnte.
Zurück in seinem Zimmer fiel ihm zum ersten Mal dieser eigenartige Geruch auf. Es roch nach abgestandener Luft und alter Bettwäsche. Doch da war noch etwas anderes, süßlicher und feiner, wie die verschwommene Spur eines Billigparfüms. Er ging zum Fenster und atmete hinaus in die Nacht. Ballhorn drückte den Rahmen wieder zu und der Gestank hatte sich verflüchtigt.
„Keine Panik“, murmelte er, als er am Schreibtisch durch seine Notizen scrollte. Er kontrollierte sein Gesicht im Bildschirm der Kamera. Erst die Zähne, die Zunge und die Nasenlöcher – gerade bei der Nase konnte man nie gründlich genug sein –, dann strich er sich über die gezupften Augenbrauen, und rückte die Kappe mit dem Aufdruck „Fire“ zurecht, sodass seine dunkelblaue Haarsträhne genau richtig herausguckte. Noch einmal betrachtete er sein Spiegelbild. Erst ehrlich lachend, dann nachdenklich, zornig, gutmütig und schließlich ironisch grinsend. Das Ironische gefiel ihm am besten. Die Stormtrooper Figur neben dem Regal gaffte ihn wie immer missmutig an. „Lach doch auch mal, Junge“, raunte er dem Deko-Kostüm scherzhaft zu und drückte den Aufnahmeknopf.
„Dieser Formel-Typ ist echt die Härte“, begann er. „Er hat mir sein „Manifest“ gestern als Brief an meine private Adresse geschickt. Keine Ahnung woher er die hat. Das ist verdammt gruslig. Ich bin seriöser Videoblogger und berichte hier über Nachrichten und Computerspiele. Ich verbreite keine Verschwörungstheorien und werde auch an keiner hirnverbrannten Revolution teilnehmen! Uns geht es gut. Und ich will, dass das verdammt noch mal so bleibt.“
Felix Ballhorn hielt inne und suchte sein Lächeln. Für einen Augenblick schien es ihm, als könne er den fremden Duft wieder riechen. Dieses leicht süßliche Parfüm.
„Deine Formel‘ interessiert keine Sau. Verstanden? Stell dich auf `nen Berg und halt `ne Predigt. Aber lass uns in Ruhe.“
Hinter sich hörte er ein Knacken, dieses Mal etwas leiser, doch weil die Aufnahme gerade so gut lief, blickte er weiter in die Kamera. Hätte er sich umgedreht, möglicherweise wäre ihm aufgefallen, dass sich die Finger des lebensgroßen Stormtrooper-Kostüms zu bewegen begannen.
„So und jetzt folgen: Die Top 10, der dümmsten Mails, die mir je geschrieben wurden. Ach, und nächste Woche gibt es dann einen ganz besonderen Einblick in die Welt der Internetaktivisten.“
Plötzlich ging es ganz schnell. Der Stormtrooper sprang aus der Ecke und streckte ihn mit einem Schlag gegen den Hals nieder. Der Angreifer kniete sich über ihn und presste seine Hände an Felix Ballhorns Luftröhre, während er ihn mit den Beinen fixierte. Das Licht an der Kamera leuchtete unbeeindruckt rot.
Ballhorn versuchte zu schreien. Er brachte keinen Ton heraus. Benommen schlug er mit Armen und Beinen nach dem Eindringling. Er zappelte und wand sich. Wenn er das überleben sollte, dachte er in seinen letzten Atemzügen, bekommt das Video seines Todeskampfes sicherlich millionenfache Klicks. So etwas ist Gold wert. Zum Glück nimmt die Kamera alles auf.
„Hey Leute, hier ist euer Herr Schmitz. Ihr glaubt nicht, was mir bei meinem Videodreh passiert ist. Plötzlich kommt diese Gestalt aus dem Nichts. Der Freak ist in meine Wohnung eingebrochen und hat sich in meinem Stormtrooper-Kostüm hinter mir versteckt. Dann kam er angeschlichen. Stellt euch das mal vor! Seltsam nur, wie er reingekommen ist. Die Wohnung war verschlossen. Na ja, jedenfalls hat er mir eins verpasst. Zack, lag ich auf dem Boden. Ich hatte Todesangst, das könnt ihr mir glauben!“ „Brutaler Angriff auf Videoblogger“, könnte er es betiteln, oder „Killer im YouTube-Zimmer“. Vielleicht ließe sich sogar noch ein Produkttipp unterbringen. Einbruchssichere Schlösser oder Pfefferspray, dachte er, bis ihm die Sinne schwanden und er nach mehrmaligem Zucken regungslos auf dem Boden erstarrte. Der Kostümierte lockerte den Griff, streifte die Handschuhe ab und fühlte nach dem Puls des Internet-Stars. Felix Ballhorn war tot.
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