Jakob und seine Begleiterin Ronja fingen an zu klatschen. Hanne bat sie mit der Hand um Ruhe. Noch war die Rede, an der sie Monate gearbeitet hatte, nicht zu Ende.
„Viele werden jetzt sagen: Klar, das klingt interessant, doch so ein radikaler Neubeginn lässt sich niemals erreichen. Und ja, ich habe weder Waffen noch das Geld welche zu kaufen. Ich brauche sie auch nicht! Das Internet gibt uns, dem Volk, eine riesige, weitgehend ungenützte Macht. Wir können uns verbrüdern zu Millionen – losgelöst von nationalen Grenzen. Wir User sind die mächtigste Armee der Erde. Wir können dafür sorgen, dass ein globaler Staat aller Menschen entsteht – unter der Herrschaft eines vernünftigen Prinzips. Das Mittel dazu ist ziviler Ungehorsam und Gewaltfreiheit. Danke Gandhi und danke Thoreau.
Ein Staat ist nur mächtig, solange er Geld hat. Ein Staat ohne Geld ist handlungsunfähig. Der größte Nutzen eines Staates ist, dass er Geld von seinen Bürgern sammelt und verteilt, damit wir in einer sicheren Umgebung leben. Wenn ein Staat kein Geld mehr hat, ist er obsolet. Unsere heutigen Staaten müssen den größten Teil des Geldes, das wir ihnen geben, als Schulden an die Banken zahlen. Unsere Steuern stärken nicht die Bürger, sondern das Kapital. Deshalb müssen wir unser Geld einem neuen System geben. Die Formel sorgt für eine ideale Verteilung des Geldes, ohne Schulden, Korruption und Krieg.
Am Anfang existiert die Formel neben den Nationalstaaten. Die Bürger der Formel zahlen eine geringe Steuer an unser System und erhalten dafür Vorteile, wie eine Krankenversicherung. Je mehr Menschen sich der Formel anschließen, desto mächtiger wird das unsichtbare Netz der Formelbürger, das sich schleichend um die Nationalstaaten schlingt, bis es sie von innen zersetzt. Verwehrt der falschen Macht euer Geld und eure Dienste und gebt es einem System, das sich euch anpasst.
Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder einmal in den Nachrichten keine Kriege, Flüchtlingstote und Zerstörung sehen. Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder nicht mehr stolz auf ihre Nationen sein werden, sondern stolz auf ihren Planeten. Die Zukunft gehört denen, die handeln! Lasst uns alle vereinen. Fo fo formula!“
Hanne reckte ihre Faust in die Luft und schrie noch einmal.
„Fo fo Formula!“
Eine schreckliche Stille breitete sich vor ihr aus. Sie senkte die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz hinten hörte sie Manfred husten. Oder war es ein Lachen? Plötzlich fing Beate an zu applaudieren. Jonas klopfte auf seine Bank und auch Jakob und Ronja klatschten erst zögerlich und dann immer lauter in ihre Hände. Als der Applaus abschwoll, meldete sich Manfred lächelnd.
„Transformation“, meinte er, während er an einer Zigarette nuckelte und eine weitere Weizenbierdose aus seiner Latzhose fischte. „Die Gesellschaft hat sich desaströs verändert, ohne es selbst zu merken, da stimme ich dir zu.“ Er ließ die Dose zischen und nahm einen Schluck. „Doch glaubst du wirklich mit Computern die Welt retten zu können? Wieso können nicht die Menschen selbst für Umverteilung und Umweltschutz sorgen? Wieso brauche ich dafür ein solches Formel-Programm? Und wer führt den Diskurs darüber, was die Gerechtigkeit ist, von der du sprichst? Ab welchen Prozentzahlen fängt sie an? Gebt einfach mal jemandem wie mir einen Euro. Das würde mehr transformieren.“
Er lachte laut, als hätte er einen Witz gemacht, und riss dabei sein riesiges Maul auf.
„Ja, warum willst du das machen?“, rief Ago dazwischen.
„Weil Menschen versagen. Immer wieder. Es liegt in ihrer Natur. Sie sind nicht fähig, sich zu einigen und Frieden zu wahren. Ich will es wieder gut machen“, sagte Hanne. „Ich glaube, was uns fehlt, ist eine Utopie. Eine echte Vision von der Zukunft. Demokratie, Kommunismus, Monarchie und auch der globale Kapitalismus. Es ist alles gescheitert. Und jetzt gibt uns die Technik endlich die Chance auf eine bessere Gesellschaft. Computer sind keine Feinde, wie unsere Großväter dachten, sondern nützliche Werkzeuge. Eine moderne Utopie muss digital sein.“
Plötzlich stand Jakob Aldermann auf und schritt langsam zum Pult, neben sie.
„Ich mag das“, sagte er und musterte ihre Aufzeichnungen und dann sie.
„Ich mag wie du redest. Deine Begeisterung. Den Wahnsinn. Ich mag, was du sagst. Die Idee ist umwerfend: Einfache Menschen wie du und ich erschaffen ihren eigenen, globalen Staat im Internet. Und sie ordnen sich einem moralischen Prinzip, einem intelligenten Programm unter. Ein Staat im Internet ist hoch riskant und anfällig für alle Arten von Manipulation. Der Code müsste Open Source sein, eine Blockchain, mit eigenem Geldsystem und ohne jeglichen Fehler. Niemals dürfte das Vertrauen der Bürger in die Technik und das Programm der Formel erschüttert werden. Du bräuchtest ein Team der besten Programmierer, die sich darum kümmern. Eine große Community, die den Code ständig überwacht. Einen Ort, an dem die hochsensiblen Daten von Millionen von Bürgern sicher verwahrt sind, gut verschlüsselt. Das ist ein Mammutprojekt. Fast nicht zu bewältigen. Eigentlich vollkommen unmöglich.“
Er schmunzelte sie an.
„Und deshalb würde ich gerne bei dir mitmachen.“
Jakob Aldermann legte seinen Arm um ihre Schultern und sie roch, dass er Parfüm aufgelegt hatte. Etwas blumiges, herbes, das sie an schlechten Sex erinnerte.
„Und du bist also der Typ, der ‚die besten Programmierer‘ hat und das ‚Unmögliche‘ möglich machen kann? Ganz schön beeindruckend, der Herr“, sagte Hanne etwas abschätzig und stieß seinen Arm weg. Er musste lachen.
„Einer der Besten steht gerade vor dir. Und ja, da lässt sich sicher jemand von uns finden, der die Formel programmieren könnte.“
„Von euch?“
„BCC. Blind Copy Club. Wir sind eine bescheidene Gruppe von – nun ja, wir werden gerne Netzaktivisten genannt, Hacker oder auch Kriminelle. Im Grunde sind wir ganz normale Mädchen und Jungs, die sich mit Computern auskennen und die Vision eines „freien“ Internets noch nicht ganz aufgegeben haben.“
Seine weiten Pupillen leuchteten tief schwarz.
„Ich hatte wirklich gehofft, dass ein Programmierer zu dem Treffen kommt“, sagte sie und konnte ihr Lächeln nicht mehr verbergen.
Die anschließende Diskussion zog sich über zwei Stunden. Jakob schlug vor, dass ein neues System eine neue virtuelle Währung bräuchte, die völlig unabhängig von Börsenkursen und Kryptowährungen wie Bitcoin sein müsste. Manfred wurde mit der Zeit immer stiller und konzentrierte sich auf das Drehen und Rauchen von Zigaretten, die er mit seinem Klappmesser stutzte. Nur dann und wann lachte er unvermittelt auf oder stellte eine komplizierte Frage, die niemand verstand. Ago dagegen blieb weitgehend stumm. Unter ihm kippte der offene Rucksack nach hinten und etwas Hartes schlug auf den Boden. Er fasste hinunter, griff sich das matt glänzende Teil und steckte es unbemerkt zurück. Der leblose Ausdruck auf seinem Gesicht verfestigte sich.
„Ich kann einen Auftritt in der Universität organisieren“, rief Jonas Simon überschwänglich und versprach, bei seinen Kommilitonen für die Idee zu werben, Flyer zu drucken und die Formel mit seinen Wirtschafts-Kenntnissen zu unterstützen.
Am Ende ergriff Jakob das Wort und lud die Gruppe für das kommende Wochenende in das BCC-Büro ein. Anschließend leerte er die Handys aus der strahlensicheren Tasche, suchte sein Smartphone und das seiner Begleiterin Ronja und verschwand wortlos, mit einem Winken aus dem Hörsaal. Manfred hievte sich ebenfalls aus der Bank und kam nach vorne gestampft. Hanne kramte einige Münzen aus ihrer Hosentasche und hielt sie ihm entgegen. Er begutachtete die vier Euros in ihrer Hand und nahm sie schulterzuckend.
„Ich brauche keine Spende von dir. Nichts für ungut, Mäuschen. Ich fand deinen Vortrag gut. Nur jedes komplizierte System enthält Fehler und unvorhergesehene Eigenschaften, glaub mir.“
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