Er zwinkerte ihr zu und verschwand in den Gängen. Hanne blickte ihm unschlüssig nach. Wenn ich ein Mäuschen bin, dann bist du eine fette Ratte, dachte sie.
„Das war unglaublich“, meinte Beate, die sich neben sie gestellt hatte. „Wirklich inspirierend. Ich weiß, ich bin nicht mehr ganz so cool, wie der Rest hier. Aber den Häkelkurs werde ich jetzt nicht mehr vermissen.“
„Warum den Häkelkurs?“, fragte Hanne gedankenverloren.
„Na ich bin rausgeflogen. Aber jetzt habe ich ja diese Gruppe. Unter uns: Ich bin für alles zu haben und kann gerne von zu Hause ein paar Aufgaben übernehmen, wenn mein Karl in der Kneipe ist.“ Sie zog einen Schminkspiegel aus ihrer Tasche und puderte routiniert ihre Wagen ab. „Die Aufregung. Da fange ich immer an zu glänzen“, meinte sie erklärend.
Hanne starrte durch sie hindurch. Ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe, und sie konnte dem Gespräch kaum folgen. Doch aus Höflichkeit fragte sie weiter.
„Und warum bist du aus dem Häkelkurs geflogen?“
„Ach, dumme Geschichte.“ Beate winkte ab.
„Habe im Streit den Pullover meiner Freundin angezündet.“ Sie lachte verlegen auf und Hanne ließ sich anstecken. Plötzlich löste sich Hanne aus dem Gespräch und rannte aus dem Hörsaal. Sie überholte Manfred, der gerade hustend in seiner Schlafkammer verschwand und erreichte Jakob, als er mit Ronja auf die Wiese vor dem Institut trat.
„Warte! Ich muss noch eine Sache wissen. Gestern Morgen im Chat? Bist du Deroga17?“, rief sie und bremste nach Luft schnappend vor ihnen.
Jakob Aldermann hielt ihr sein überhebliches Lächeln entgegen.
„Da kann ich dir nicht weiterhelfen. Ist auf jeden Fall ein toller Chat-Name. Klingt nach einem tapferen Ritter. Oder eher einem pubertären Ritter. Ich hieß früher im Chat allerdings Beach-Lady-13 und hab schmierige Typen verarscht.“
Er lachte und hob die Hand zum Abschied. „Ich muss jetzt wirklich los. Bis bald, Hanne. Wir hören voneinander!“ Ronja folgte ihm und drehte sich noch zweimal um, bevor sie hinter einer Häuserecke verschwanden.
Auf dem Rückweg zum Hörsaal kamen ihr Jonas und Beate entgegen, die noch immer diskutierten. Sie umarmte beide, bedankte sich für ihr Kommen und eilte den Gang weiter. Inzwischen dämmerte es, und in das von Sträuchern und Bäumen umwucherte Institut drang nur noch wenig Tageslicht. Hanne bog zu früh ab und merkte erst als sie gegen einem Seziertisch stieß, dass sie in einen falschen Teil des Instituts gelaufen war. Durch einen Torbogen konnte sie in den ehemaligen Kühlraum sehen. Die quadratischen Leichenfächer waren verriegelt, als würden dahinter noch immer die toten Körperspenden rotten. Sie machte kehrt, und irrte durch die verlassenen Gänge, bis sie vor einer Tür ein Pappschild mit der Aufschrift „Manfred“ erkannte und von hieraus zurück in den Hörsaal fand. Als sie den Saal betrat, beugte sich Ago gerade über das Pult und blätterte in ihrem Notizbuch.
„Bist du bescheuert?“, fauchte sie ihn an und rannte auf ihn zu.
„Entschuldigung“, meinte Ago und machte eilig einige Schritte zurück.
Hanne schlug ihn beiseite.
„Schon mal etwas von Privatsphäre gehört, du Vollidiot? Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er entschuldigte sich nochmals und huschte mit eingezogenen Schultern zu seinem Rucksack, sodass Hanne ihr Fluchen schon wieder leidtat.
„Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du mit der Formel nichts anfangen kannst? Und wie hast du die Seite gefunden?“, fragte sie, nachdem sie ihre Sachen eingepackt hatte.
Ago wühlte stoisch in seinem Rucksack – hielt einen Moment inne – ratschte den Reißverschluss zu und ging langsam zur Tür.
„Sollen wir zusammen zur Bahn?“, fragte er und sie willigte ein.
„Du hattest was von einer Formel gemurmelt. Im Blumenladen. Und ich habe auch schon mal in einem Forum darüber gelesen“, fing er an. „War nicht so schwer das im Internet zu finden. Und ich fand die Texte auf dem Blog wirklich interessant. Aber ich glaube nicht, dass so etwas funktionieren kann. Manfred hat Recht: Warum sollten wir uns einem Programm unterordnen, das uns regiert?“
„Und dann hast du mich angeschrieben. Im Chat?“ Unterbrach ihn Hanne. „Wie?“, fragte Ago.
„Na, du hast dir ein anonymes Profil gemacht und mit mir gechattet, oder?“
„Ich verstehe nicht, was du meinst. Es tut mir jedenfalls leid, dass ich etwas über dich recherchiert habe. Ich fand dich spannend dort im Blumenladen. Die Formel klang irgendwie verrückt. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich eigentlich gehofft…“
Er stockte und half ihr aus dem Fenster des Instituts zu klettern. Ein kühler Wind stellte sich ihnen entgegen.
„Was hattest du gehofft?“, fragte Hanne. Die Wiese unter ihren Sohlen war schon feucht von der sich ankündigenden Nacht.
„Dass wir ein bisschen Zeit haben, miteinander zu sprechen. Ich würde dich zum Beispiel gerne auf einen Kaffee einladen. Auch wenn du einen Freund hast und vielleicht gerade andere Probleme. Ich würde dich gerne kennenlernen. Etwas besser, verstehst du?“
Hanne drückte ihren Körper durch das Loch in der Hecke.
„Ne, tut mir leid, das verstehe ich nicht. Nichts für ungut, Ago.“
Die Bahn rauschte in die Haltestelle. Hanne warf Ago eine knappe Verabschiedung zu und rannte so schnell sie konnte in Richtung des Zuges. Im letzten Moment sprang sie durch die Tür und Ago, der am Gehweg stehen geblieben war, entfernte sich immer weiter. Woher will er wissen, dass ich einen Freund habe, dachte sie noch, als sich der Tunnel um die Bahn schlang.
Kommissar Wiebke wusste was richtig und was falsch war. Meistens war die Welt ganz einfach: Es ist richtig, anderen zu helfen und falsch, sie zu ermorden. Es ist richtig, höflich und zuvorkommend zu sein und falsch, Menschen zu beleidigen. Kommissar Wiebke war ein Mann, der keine Zeit zum Zweifeln hatte. Ein einziges Mal zauderte er in seiner Karriere, und wäre beinahe daran gestorben. Das würde ihm nie wieder passieren. Kommissar Wiebke verabscheute halbe Sachen. Das passte einfach nicht zu ihm. Nach drei Monaten hatte er seine spätere Frau gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Nach sechs Monaten standen sie vor dem Altar, nach sieben Monaten war sie zum ersten Mal schwanger und nach zwei Jahren zum zweiten Mal. Alles hatte seine Richtigkeit gehabt. Doch irgendwie ist es am Ende falsch gelaufen. Wie es immer irgendwann falsch lief. So sehr er sich dagegen stemmte, manchmal hatte er das Gefühl, er würde das Falsche magisch anziehen. Wie ein Magnet für Scheiße. Womöglich hatte es ihn deswegen zur Polizei gezogen. Weil er ein Scheißemagnet ist. Das Leben ist wie die Frauen, sagte er gerne. Kaum zu verstehen und immer bereit, dir ohne Ankündigung in die Eier zu treten. Dann, wenn es eigentlich gerade gut läuft. So wie bei ihm und seiner Frau. Er hätte nie gedacht, dass sie eine dieser Fremdgeherinnen ist. Aber sie hatte es nun mal getan. Also musste er die Ehe beenden. Weil sich das so gehörte und man immer zu sich stehen musste. Sie meinte, dass sie sein Schweigen nicht mehr ertragen und er die Kinder nie verstanden hätte. Er sei der Grund gewesen, weshalb die Große kaum mehr nach Hause kam, und der Kleine die Schule geschmissen habe. Er habe sie erdrückt. Er sei ein Diktator. Kommissar Wiebke hatte nur milde gelächelt. Was störte es die stolze Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr wetzt. Er wünschte seiner Frau noch ein schönes Leben und reichte ihr die Hand zum Abschied. Er wusste genau, was sie in diesem Moment gedacht hatte. Kommissar Wiebke kannte die Menschen. Er wusste wie sie tickten, kannte tausend lügende Gesichter, wusste von den kleinen und großen Erniedrigungen, die sie sich antaten, er kannte die Muster, von Generationen zu Generationen, Opfern zu Tätern, wie sich alles vererbte, wie Narben im Verborgenen glühten und irgendwann entflammten. Warum Leute taten, was sie taten. Er verstand, welche Verletzungen sich hinter aufgeregten Zeugen verbargen. Mit welchen Anschuldigungen sie sich selbst enttarnten.
Читать дальше