Nach vier Jahren beschloss Hanne den Kontakt zu ihrem Vater wiederaufzunehmen und ihn in seiner Wohnung in der Stadtmitte zu besuchen. Er war zu Geld gekommen und hatte sich eine dummschöne Freundin angelacht, die er mit neuen Handtaschen bestach. Ohne sich anzukündigen, fuhr Hanne mit der Straßenbahn zu der Anschrift, die auf seinen Briefen stand und wäre er nicht zufällig aus der Haustür getreten, sie hätte die Klingel wohl weiter angestarrt und wäre nach Hause gefahren, ohne auf seinen Namen zu drücken.
Hanne dachte nicht gerne zurück. Sie hatte die Trennung der Eltern, den letzten Familienurlaub und die Schuldzuweisungen, so gut es ging vergessen und die Erinnerungen mit neuen Eindrücken überschüttet, bis sie verschwanden. Es gab Wichtigeres zu tun. Plötzlich war es Hanne, als warte sie wieder vor der Wohnung ihres Vaters, mit talgiger Haut – pickelbeladen – Angstschweiß, 16 Jahren und schlechtsitzenden Kleidern. Nur heute stand sie in einer anderen Stadt, vor einem anderen Mietshaus und auf dem Klingelschild las sie zwischen all den Müllers, Schmidts und Meiers, „BCC – Blind Copy Club“. Sie dachte an die Umarmung ihres Vaters, das Familienfoto auf dem Marmor-Küchentisch – daneben sein Autoschlüssel und ein Bild seiner dummen Freundin – den vertrauten Gestank in den fremden Räumen und die bekannten Mäntel in der Garderobe. Hanne Bergstrom war nicht geschaffen für Romantik, Kitsch oder Nostalgie, zumindest wollte sie es nicht sein.
Zwei Straßen weiter hatte ein Café Gusseisenstühle und -bänke auf dem Gehweg gruppiert, auf denen sich jetzt die Stadtmenschen einträchtig angrinsten oder in Kaffee und Laptop vertieft die Sonne erfühlten. Hanne beschloss eine Runde zu spazieren. Je näher sie dem Café kam, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, Clemens auf einem der Stühle zu ertappen wie er ihr nachspionierte. Sie suchte die Gesichter der Gäste ab. Ihr Freund war nirgendwo zu sehen.
Clemens offenbarte ihr weder seine Wut, dass sie ihm nichts von der Formel erzählt hatte, noch bat er sie darum, an den Treffen teilzunehmen. Ihre Befragung durch die Polizisten und sein falsches Alibi erwähnte er mit keinem Wort. Am Morgen sagte sie: „Ich gehe heute zum Computer Club. Du weißt ja, für das Projekt.“ Und er nickte nur und blickte nicht einmal von seinem Smartphone auf. Als sie die Küche verließ, meinte er: „Dass ich dich immer beschützen muss.“
Im Rausgehen zeigte sie ihm den Mittelfinger und hoffte, dass er es nicht gemerkt hatte. Clemens war ein ruhiger Charakter. Nur ein einziges Mal war er vor ihr ausgerastet. Und irgendwie hatte es ihr gefallen, ihn so zu sehen.
Hanne passierte das Café und bog nach rechts in einen Park. Ohne die fußballspielenden Jungs zu beachten, die mit Kotbeutel bewaffneten Hundebesitzer, welche sich ganz auf das Hinterteil ihres Tieres konzentrierten und die alten Männer, die mit Brottüten gegen das „Bitte nicht füttern“-Schild vor dem Ententeich rebellierten, drehte sie eine Runde durch die blühende Anlage und kehrte schließlich zurück in die Auguste-Viktoria-Straße. Ihr Gehirn fühlte sich eigenartig leer an. Sie drückte „BCC“, es surrte und sie lief hinein. Der Boden war mit weißem und rotem Marmor ausgelegt, und die Briefkästen hatten goldene Klappen und Messingschilder. Nur am Briefkasten des BCC klebten einige mit Tesafilm befestigte Zettel mit Namen. „Aldermann“ las sie im Vorbeigehen und daneben „Ballhorn“. Erst im zweiten Stock, fiel ihr schlagartig ein, woher sie den Namen Ballhorn kannte. Konnte es sein, dass der ermordete Felix Ballhorn hier eine zweite Wohnung hatte? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Oder besaß rein zufällig jemand beim BCC denselben Namen? Es erschien ihr reichlich unwahrscheinlich, denn Ballhorn war ein seltener Nachname. Möglicherweise lief sie gerade in die Arme seines Mörders, dachte Hanne, doch da erspähte sie Jakob lächelnd an der Schwelle seiner Wohnung. Es war zu spät, um kehrtzumachen.
Jakob Aldermann lag mit ausgestreckten Beinen auf der Chaiselongue im Besucherraum. Gähnend scrollte er durch den Quellcode der neuen Website. Wie üblich hatte er keine Fehler gemacht. In der Mitte des riesigen Zimmers gruppierten sich zwei Designersofas um einen geschwungenen Marmortisch. An den Wänden hingen Bildschirme im Heimkinoformat, und neben dem offenen Kamin ragte ein metallenes Bücherregal eingerahmt von zwei Olivenbäumen. In der Ecke war eine gläserne Bar aufgebaut und daneben schob sich die Chaiselongue ins Sichtfeld. Es war der größte und schönste Raum der Altbauwohnung. Jakob gefiel es, wenn seinen Gästen vor Neid die Spucke wegblieb. Doch ihn ödete das Zimmer an. Jeder Investmentbanker konnte sich das leisten. Es war nichts Besonderes. Er schmiss das Tablet beiseite und stellte sich ans Fenster. Vielleicht würde es uns wirklich besser gehen, wenn wir alle akzeptieren, dass wir nur Idioten und wilde Tiere sind, dachte er. Hanne Bergstrom hatte das verstanden. Zuerst fand er ihren Blog amüsant, ihre Texte unterhaltsam. Doch der Vortrag im verlassenen Institut für Anatomie hatte etwas mit ihm gemacht. Was sie sagte, klang groß. Es klang nach Zukunft. Nach Macht und Bedeutung. Seit Jahren hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet. Die Formel könnte die Probleme des BCC in Luft auflösen. Und gleichzeitig würde er mit dem Programm Geschichte schreiben. Ein paar Anpassungen im Code würde sicherlich niemand merken. Besonders Hanne nicht. Sie war eine starke Frau, aber einfach zu manipulieren. So wie alle. Etwas an ihr erregte ihn. Wahrscheinlich war es ihre Dominanz, ihre Energie, überlegte er. Eine Trophäe, die sich nicht so schnell erbeuten lassen würde wie Ronja. Er schmunzelte noch immer als es klingelte.
Hanne Bergstrom begrüßte Jakob mit einer Umarmung. Parfüm trug er nicht, dafür steckte er in dem gleichen Rollkragenpullover von ihrem vergangenen Treffen. H&M, billige Kinderarbeitsmode, dachte sie, sagte aber nichts.
„Jonas ist schon da“, meinte er und bat sie herein. „Wollte noch jemand von der Konferenz kommen?“
Hanne folgte ihm durch den breiten, fensterlosen Altbauflur mit Fischgrätparkett. Von der Decke baumelten kreisrunde Glühbirnen mit geschwungenem Draht im Inneren, die den Gang in Licht tauchten, das schläfrig machte. Die Wände waren hell gestrichen, genau wie die abgehenden Kassettentüren.
„Beate und Ago haben sich bei mir angekündigt. Nur Manfred, unser Technikgegner, wollte mir seine Handy-Nummer nicht verraten.“ Sie lachte. „Sag mal, was ist das eigentlich für ein Name, der auf eurem Briefkasten steht?“
Jakob blieb stehen und fasste sie an den Schultern.
„Ago kommt auch?“, fuhr er sie an, ohne ihre Frage zu beachten.
„Ich habe kein gutes Gefühl bei ihm. Besonders nach dem, was du erzählt hast. Er weiß zu viel über dich. Wenn ich darüber nachdenke, war alles an ihm falsch und aufgesetzt. Er ist nicht zu unserem Treffen gekommen, weil er sich für die Formel interessiert. Was glaubst du, weshalb war er da? Um Fotos zu machen?“
Hanne sah ihn misslaunig an.
„Ich glaube, er war auf der Veranstaltung, weil er ein Cop ist“, redete er weiter. „Wahrscheinlich vom BND.“
„Was sollten die von uns wollen?“, fuhr ihn Hanne an.
„Die Formel ist nicht so harmlos wie du denkst. Dem Staat wird das nicht gefallen. Wir müssen vorsichtig sein.“ Jakob spielte mit dem Ring in seinem Ohr.
„Soll ich Ago also absagen, oder was willst du?“
„Wir werden ihn beobachten. Er wird versuchen, dich auszufragen. Ich hoffe, du weißt, dass alles was hier passiert vertraulich ist!“
„Es ist ein Kunstprojekt“, entgegnete Hanne. „Ich sage ihm, dass die Formel nur ein Kunstprojekt ist. Und den nächsten Termin machen wir ohne ihn. Einverstanden?“
Jakob ging weiter, als wäre nichts geschehen.
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