„Hab deine Seite durchforstet“, schrieb der Nutzer weiter. „Spannende Ideen hast du. Willst du die Konferenz morgen in Berlin machen?“
Sie schickte einen Daumen nach oben. „Wer bist du denn, Deroga?“, schrieb sie hinterher.
„Ich komm mal zu dem Treffen. Dann lernen wir uns kennen. Schreib mir wo und die genaue Uhrzeit“, antwortete der Nutzer nach einer Weile. „Am besten wäre etwas Abgeschiedenes, ohne Überwachung, ohne Polizei. Und Mittag passt bei mir gut.“ Deroga hängte einen Link an die Nachricht. „Vielleicht ja dort?“
„Ich veröffentliche drei Stunden vorher die Koordinaten. Kannst du alles auf dem Blog nachlesen.“
Sie tippte einen zwinkernden Smiley in das Chatprogramm.
„Alles klar“, antwortete Deroga. „Und zu deiner Frage nach meiner Person: Ich bin ein Freund. Wenn die Polizei gleich kommt, darfst du ihnen nichts von mir erzählen.“
Hanne hackte Fragezeichen in ihre Tastatur, als die Wohnungsklingel hell läutete. Sie hörte Clemens, der aus dem Wohnzimmer in den Flur trottete.
„Die Leute sind nicht immer die, für die sie sich ausgeben“, schrieb der Nutzer zurück, bevor er offline ging.
Deroga17, murmelte Hanne. Sie hatte diesen Namen noch nie gehört. Zögernd klickte sie auf den Link in der Nachricht. Es erschien eine Fotogalerie des verlassenen Instituts für Anatomie, samt Hörsaal mit Bänken, Pulten und Tafel. Sie drückte auf die Satellitenbilder. Gleich neben dem Botanischen Garten, in einem der gepflegtesten Viertel der Stadt, verbarg es sich hinter einer Mauer aus Unkraut. Es war perfekt.
„Hanne?“, rief Clemens. „Es ist für dich!“
An der Wohnungstür standen zwei Polizisten. Als sie Hanne entdeckten, stoppte das Gespräch.
„Kommissar Wiebke, angenehm.“
Ein hagerer Mann in seinen frühen Sechzigern reichte ihr die Hand. An seinem rechten Handgelenk trug er eine Bandage, als quäle ihn eine Sehnenscheidenentzündung, wie einen Büroarbeiter.
„Dürfen wir reinkommen?“ Bevor Hanne etwas erwidern konnte, bat Clemens die Kommissare herein. Sie versetzte ihm einen Tritt. „Was soll das? Ich will die nicht in der Wohnung“, zischte sie ihn an. Die Beamten waren schon vorgegangen. Sie setzten sich an den Küchentisch und Hanne folgte ihnen. Der jüngere von beiden wich ihren Augen aus und blähte seine Brust auf, um etwas selbstbewusster zu wirken. Er hatte sich als Paul Zweideck vorgestellt, vertiefte sich sogleich in sein Notizbuch und beobachtete die Situation, ohne etwas zu sagen.
Kommissar Wiebke lächelte Hanne gütig an, als hätte er in seinen Berufsjahren schon alles erlebt und wüsste genau, wie sie sich fühlte und warum sie ihre Hände gegeneinander rieb. Vielleicht arbeitete er tatsächlich meistens im Büro, überlegte Hanne. Möglicherweise war er einer, der kaum noch vor die Tür ging und seine Fälle am Computer und in Verbrecherdatenbanken löste. Oder er saß deshalb so viel vor dem PC, weil sein Einsatzgebiet im Netz lag. Cyberkriminalität. „Die Polizisten sind nicht die, für die sie sich ausgeben“, hatte Deroga geschrieben. Hanne spürte wie ihr kalt wurde. Clemens kochte stumm das Wasser für den Kaffee und begann klimpernd in den Schränken nach Filtern, Pulver und Tassen zu wühlen.
„Ganz schön frisch für Anfang Mai. Ich sehe ja, dass sie sich schon für den Sommer angezogen haben mit ihren Shorts“, begann Kommissar Wiebke mit einem der Eröffnungssätze seiner Verhörtaktik, die den Verdächtigen in ein lockeres Gespräch verwickeln sollten. Hanne antwortete nicht. Sexistisches Arschloch, dachte sie.
„Wissen Sie, warum wir hier sind?“, fuhr der Kommissar fort.
„Bei allem Respekt, mein lieber Herr Wachmann. Sie wissen also selbst nicht, warum Sie hier sind. Wollten Sie einfach mal einen Gratis-Kaffee bei mir abstauben und mich mit Kommentaren zu meinem Outfit langweilen, oder wie muss ich das verstehen?“, entgegnete sie. „Bevor ich mit Ihnen rede, will ich wissen, was Sie von mir wollen.“
Der Beamte seufzte.
„Ihnen wird nichts vorgeworfen. Ich würde nur gerne von Ihnen erfahren, was es mit folgender Internetseite auf sich hat, die auf ihren Namen läuft: www.the-formula“, buchstabierte er umständlich.
Hanne spürte, wie ihre Finger gegen die Tischplatte zuckten.
„Ja“, antwortete sie schließlich. „Die gehört mir.“
Sie fragte sich, ob sie darauf bestehen sollte, nur im Beisein eines Anwalts zu antworten, doch es schien ihr im Moment keinen Sinn zu machen.
„Ich bin Künstlerin. Und das ist ein Projekt von mir. Ich will simulieren, wie sich im Netz eine globale Regierung unter der Herrschaft einer künstlichen Intelligenz und ohne nationale Grenzen entwickeln kann.“
Clemens sah sie fragend an. Sie hatte ihm bisher nichts von der Formel erzählt. Sie war sich sicher, dass er das Konzept sowieso nicht kapieren würde. Der Kommissar dagegen nickte, als hätte er etwas davon verstanden und wechselte in einen väterlich-besorgten Gesichtsausdruck.
„Sie müssen verstehen: Es ist ein Mord geschehen. Sagt Ihnen der Name Felix Ballhorn etwas? Er wurde vor zwei Tagen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Wir sind hier auf Ihre Mithilfe angewiesen.“
Hannes Herz schlug jetzt so wild, dass sie kaum Luft bekam. Sie versuchte zu antworten, aber brachte nur ein „Ja“, heraus.
„Sie haben Herrn Schmitz, so heißt er als Videoblogger, kurz vor seinem Tod einen langen Brief geschrieben. Ist das richtig?“
Was hatte es für einen Zweck den handgeschriebenen Brief zu leugnen? Die Polizei hätte ihre Handschrift sofort abgleichen können.
„Herr Felix Ballhorn wurde mit Ihrem Brief in der Hand vor seiner Videokamera erdrosselt. Der Täter hat sich mit bisher unbekannten Mitteln Zugang zu der Wohnung verschafft.“
Kommissar Wiebke suchte wieder Augenkontakt.
„Ihr Brief besaß keine Marke. Deshalb gehen wir davon aus, dass Sie ihn selbst bei Ballhorn eingeworfen haben. Nun fragen wir uns: Woher kannten Sie seine private Adresse?“
Hanne ließ sich Zeit, bevor sie antwortete.
„Der wohnt hier gleich um die Ecke. Ich habe ihn häufig beim Einkaufen gesehen und beobachtet, wie er zurück in seine Wohnung ging.“
Sie versuchte dagegen anzukämpfen, doch an ihrer Wange kroch eine Träne hinunter. Eilig wischte sie sich übers Gesicht.
„Kannten Sie Herrn Schmitz denn persönlich?“ Sie verneinte. Clemens schob die Kaffeekanne auf den Tisch, reichte jedem der Beamten eine Tasse und stellte sich hinter Hanne. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und begann sie unruhig zu massieren, bis sie ihn wegschlug.
„Ich habe ihm diesen Brief geschrieben, damit er meine Idee auf seinem Videokanal vorstellt. Ich brauchte Aufmerksamkeit für mein Projekt. Das ist alles. Ich hatte keine Ahnung, dass jemand ihn ermorden will. Das müssen Sie mir glauben.“
Der Kommissar musterte sie eingehend, dann notierte er wieder etwas mit seiner bandagierten Hand in das Notizbuch.
„Ganz ruhig. Diese Fragen sind reine Routine. Wo waren Sie am Donnerstagabend vor einer Woche. 13. April. Können Sie sich da noch erinnern?“ Sie verneinte, doch Clemens schaltete sich mit bebender Stimme ein.
„Wir haben hier was gekocht, weißt du nicht mehr? Couscous-Salat. Und dann haben wir einen Film geschaut und sind auf dem Sofa eingeschlafen. Das war alles.“
Die Polizisten schrieben etwas in ihre Hefte. Hanne konnte sich genau erinnern, was sie an jenem Donnerstag gemacht hatte. Sie hatten sich gestritten und Hanne war aus der Wohnung gestürmt. Sie brauchte etwas Zeit für sich und war stundenlang durch die Stadt spaziert. Ihre Gedanken hatten sich im Kreis gedreht und sie war unfähig gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Spät in der Nacht schlüpfte sie zurück zu Clemens ins Bett. Wäre er dabei aufgewacht, hätte sie wahrscheinlich Schluss gemacht. Am Morgen hatte er sie mit Brötchen und frischem Kaffee geweckt.
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