»Wir haben volles Verständnis dafür, Mylady«, erwiderte Primes. Er deutete ein leichtes, höfliches Nicken an.
Nachdem sie sich erhoben hatten, bemerkte Lady Elizabeth, die nachgeblutete Stelle an Primes Hinterkopf.
»Oh! Inspector, haben Sie sich etwa verletzt?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Ja, bereits in London, Mylady«, beschwichtigte Primes lächelnd. »Völlig unbedeutend. Gestern habe ich mich erneut an dieser Stelle gestoßen, und sie hat ein wenig geblutet. Es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Das tut mir aber leid«, entgegnete Lady Elisabeth, aber Primes und auch Celeste glaubten den Anflug eines eigenartigen Lächelns auf ihren Lippen zu bemerken, den sie nicht zu deuten wussten. Doch vielleicht hatten sie sich auch getäuscht.
Lord Montgomery, Celeste und Primes gingen, nachdem sie sich ihre Mäntel geholt hatten, in den Park hinaus, wo ihnen ein frischer Wind entgegenwehte, der ein paar vereinzelte Schneeflocken vor sich hertrieb.
Sir Andrew hatte Primes erneut eine Zigarre angeboten, die dieser aber auch heute ablehnte. Er griff lieber zu einer seiner Zigaretten.
Über Nacht war frischer Schnee gefallen. Gemächlich schlenderten sie durch den sehr alten Baumbestand. Celeste merkte, dass Primes gern mit ihrem Vater ein paar Worte unter vier Augen gewechselt hätte. Deshalb blieb sie etwas zurück und betrachtete die Bäume und Sträucher. Als sie einen alten Mann sah, der mit einem Schneeschieber zur Terrasse wollte, begann sie mit ihm eine Unterhaltung.
»Guten Morgen, Mister ….«, grüßte sie freundlich und ließ die Anrede in der Luft hängen, da sie den Mann hier noch nie gesehen hatte. »Was für ein herrlicher Wintermorgen, nicht wahr? Ich bin Celeste Montgomery. Die Tochter von Sir Andrew. Ich bin aus London zu Besuch«, plauderte sie.
»Lewis«, brummte er. »Das ist mein Name. Ich bin der Gärtner.«
Der Mann war mindestens siebzig Jahre alt und nicht gerade das, was man als einen ansehnlichen Menschen bezeichnete. Mit anderen Worten – man konnte ihn schlicht als hässlich bezeichnen, auch wenn sich Celeste eigentlich dagegen sträubte solche pauschalen Begrifflichkeiten zu verwenden. In ihren Augen hatte jeder Einzelne auf Gottes weiter Welt, eine positive Eigenschaft, die ihn zu etwas ganz eigenem machte. Schönheit gab es in großer Vielfältigkeit, allerdings konnte sie bei diesem Lewis rein äußerlich nichts Erquickliches entdecken. Sein Gesicht erinnerte sie stark an Verbrecher, mit denen sie seit Beginn ihrer Arbeit beim Yard täglich zu tun hatte. Er war grobschlächtig, mit einigen Narben übersät, sodass eines seiner Augenlider dadurch ein Stück nach unten gezogen wurde, was sein Antlitz unsymmetrisch machte. Dennoch wollte sie ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen.
Während sie mit ihm einen belanglosen ›Small Talk‹ hielt, hatte sie dennoch die ganze Zeit das Gefühl, als würde der Gärtner eine Möglichkeit suchen, um ihren Fängen zu entwischen. Ein großer Redner war er definitv nicht.
Zur selben Zeit begann Primes eine Unterhaltung mit Sir Andrew: »Ich hätte gern etwas von Ihnen gewusst ...«
»Ja, gern, Inspector Primes. Allerdings möchte ich Ihnen zunächst die Liste mit Bediensteten überreichen und den Plan des Anwesens, wie wir es gestern Abend besprochen haben.« Er war stehengeblieben und zog mehrere, in der Mitte gefaltete, Bögen Papier aus der Innentasche seines Mantels. »Hier, wo die grünen Schattierungen sind, liegen die Zimmer des Personals.«
Nach einigen weiteren Erläuterungen, die der Earl ihm beinahe im Befehlston gab, steckte Primes die Namensliste und den Grundriss ein.
»Haben Sie den Schuss in der vergangenen Nacht gehört? Mich dünkt, der Knall wäre aus Richtung des Parks gekommen«, sagte der Inspector wie beiläufig, da er die Reaktion von Celestes Vater zu dieser Frage ungefiltert sehen wollte.
»Einen Schuss?« Der Earl zeigte sich erschrocken.
»Ja, ich wollte mich gerade zu Bett begeben, als ich ihn hörte. Leider konnte ich den Schützen nicht ausmachen, aber ich bin mir sicher, mich nicht getäuscht zu haben, denn der Klang einer Pistole, die abgefeuert wird, ist mir vertraut. Außerdem vernahm ich Schritte, die sich eilig entfernten.«
»Interessant«, erwiderte der Adelige. »Ich habe nichts vernommen. Ich habe geschlafen wie ein Stein. Muss noch aus meiner Militärzeit stammen. Man hat jede Chance zu ruhen genutzt, egal wie viel Kugeln einem um die Ohren flogen. Wäre man da wie ein Feigling jedes Mal zusammengezuckt, hätte man nicht eine Minute Schlaf gefunden.«
Er zog kräftig an seiner Zigarre und klopfte anschließend die Asche ab, während er seinen Blick voraus über den Park schweifen ließ, als würde er einen Eindringling hinter den feindlichen Linien suchen.
»Hat meine Tochter den Schuss ebenfalls gehört?«, erkundigte er sich.
»Sie hat es verneint … sagte mir, sie habe tief und fest geschlafen.«
»Das ist ja merkwürdig!«, murmelte Primes‘ Gastgeber vor sich hin.
Dem Inspector fiel auf, dass der Earl trotz der Kälte transpirierte und sich den Schweiß von der Stirn tupfte. Zum Frühstück hatte er zwei Gläser Champagner und ein großes Glas Whisky getrunken. Primes konnte nur vermuten, dass es nicht ausreichend genug war und sein Körper eigentlich nach weitaus mehr verlangte.
»Ich wollte Sie noch etwas anderes fragen, MyLord«, fuhr Primes nach einer Weile fort und blieb neben einer Hecke stehen, warf einen Blick zurück und bemerkte Celeste im Gespräch mit dem Gärtner.
»Nur zu, bitte, fragen Sie, Inspector«, forderte ihn der Earl leicht gereizt auf und machte einen fahrigen Eindruck.
Primes sah ihn direkt an, nahm einer Zug von seiner Zigarette und sagte sehr leise: »Sie haben mir nicht erzählt, woher Ihre Gattin eigentlich stammt?«
»Habe ich das tatsächlich noch nicht erwähnt?«, tat Earl Montgomery überrascht.
»Nein«, erklärte Primes. »Daran könnte ich mich entsinnen.«
»Meine Frau war Tänzerin, als wir uns das erste Mal begegnet sind.«
»Wie interessant!«
»Ja ... ich habe sie in New York kennengelernt, wo sie seinerzeit gelebt und gearbeitet hat. Allerdings ist sie gebürtige Engländerin, wie Sie ja unschwer an ihrem Dialekt und ihrem Benehmen nach erkennen konnten. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
»Das kann ich verstehen. Eine sehr attraktive, reizvolle Frau, wie ich schon bemerkte, Mylord. Stammt sie aus Adelskreisen?«
»Nein, sie ist nicht von adeliger Geburt, jedenfalls nicht väterlicherseits. Ihre Mutter stammt aus einer adeligen Familie, die in der Grafschaft Essex zu leben scheint. Allerdings habe ich noch keinen von ihnen kennengelernt. Warum wollen Sie das wissen, Inspector?«
Sie gingen langsam weiter. Das schöne, heitere Wetter war umgeschlagen und ein leichter Schneefall hatte wieder eingesetzt. Nach einer Weile gelangten sie an einen kleinen Pavillon, an dem die dürren, blattleeren Äste einer Kletterrose hingen. Im Sommer war sie sicher wundervoll blühend und betörend durftend hinauf gerankt.
»Wir reizend«, stellte Primes begeistert fest.
Vor dem Pavillon war ein großer Teich, der von einer dicken Eisschicht bedeckt wurde.
»Sie wissen also wenig über das Vorleben Ihrer Gattin, Mylord?«, fragte Primes wie beiläufig.
»Vorleben? Donnerwetter!«, erzürnte sich der Earl. »Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen? Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, als wären sie ein Backfisch vor seinem ersten Beischlaf.«
»Zum Ausdruck bringen? Nichts. Mich persönlich würde das Vorleben einer Frau, die ich heirate, doch berechtigterweise interessieren. Oder ... ?«
Primes ließ Sir Andrew nicht aus den Augen.
»Ich meine, dass es reicht, wenn man sich liebt. Ich muss sagen, Ihre Fragen sind, gelinde ausgedrückt: recht eigenartig und impertinent. Haben Sie an meiner Frau irgendetwas auszusetzen?«
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