„Wieso?“
„Du hältst dich nicht an die Regel.“
„Wieso?“
Ganz schwachsinnig kommst du dir vor, als du dich innerhalb von Sekunden ein zweites Mal „wieso?“ ausrufen hörst, als wüsstest du immer noch nicht, was Sache ist. Dabei bist du selbstredend vollkommen im Bilde.
„Du sollst nicht mehr alleine gehen, wie oft soll ich dir das noch sagen?“
Endlich lässt er los. Er sieht ernsthaft erzürnt aus.
„Mach keinen Aufstand, mir passiert schon nichts.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Aber das nächste Mal sagst du Bescheid. Einer von uns hat immer Zeit und Lust, dich zu begleiten. Wir wollen doch das Schicksal nicht herausfordern.“
„Okay, versprochen.“
Dir bleibt nichts anderes übrig, als einzulenken. Gemeinsam spaziert ihr zur KiHo zurück. Eure Unterhaltung kreist um das bevorstehende Musikereignis. Deine Tischgenossen wollen alle kommen.
„Die Kneipe wird brechend voll sein. Wir sollen schon um acht aufbrechen, hat Rainer gesagt, also gleich nach dem Abendbrot.“
„Gut, dann bis später, ich will jetzt in die Bibliothek, für Liebermann das Referat vorbereiten.“
Vor dem Abendessen machst du dich im Rahmen deiner bescheidenen Möglichkeiten hübsch; wenigstens ein frisches T-Shirt und die dünnen silbernen Armreifen sind das Minimum an optischer Verschönerung. Die Armreifen kontrastieren gut zu dem noch relativ neuen blauen Shirt. Um dich endgültig ausgehfertig zu fühlen, legst du Lippenstift auf, wobei du in deinem Eifer vergisst, dass der beim Essen wieder abgehen wird. Und ihr wollt ja gleich nach dem Abendessen gemeinsam aufbrechen.
Dann ist es auch schon Zeit für die Mensa. Du drückst die Türklinke nieder, aber, was ist das?? Fasst hättest du dir den Kopf am Türblatt gestoßen. Die Tür lässt sich nicht öffnen, keinen Millimeter. Was soll das?
Plötzlich erinnerst du dich, in der letzten Viertel Stunde unverhältnismäßig viel Lärm auf dem Flur gehört zu haben. Stimmen und Türenklappen, sowie ein sonderbares Schleifgeräusch, als wäre im Zimmer gegenüber ein Möbelstück verrückt worden. Du warst so mit deiner Verschönerung beschäftigt, dass du den ungewöhnlichen Lärm zwar registriert, aber nicht weiter beachtet hast.
Plötzlich fällt es dir wie Schuppen von den Augen: Die Jungs haben dir einen Streich gespielt, die Tür von außen verbarrikadiert. Diese Halunken! Da steckte bestimmt Matthias dahinter, der dir einen Denkzettel verpassen will, weil er dich ohne männliche Begleitung auf der Hardthöhe erwischt hat.
Aber der soll sich geschnitten haben. Du wirst hier herauskommen. Um jeden Preis. Und du hast auch schon eine Idee wie.
Die in der Schreibtischschublade aufbewahrten Bindfäden von Omas Päckchen kommen nun zum Einsatz. Du hast sie säuberlich entknotet und nun knotest du sie alle aneinander. Hoffentlich reichte die entstehende Schnur. Du machst sie am Heizkörper unter dem Dachgaubenfenster fest und bindest dir das andere Ende zweimal um dein linkes Handgelenk, für alle Fälle, falls du rutschen solltest. Ein Seil war es zwar nicht gerade, wäre natürlich sicherer gewesen, aber du sorgst nur für den Notfall vor, dass du auf den Dachziegeln rutschen könntest. Und der wird schon nicht eintreten, denkst du. Typische Sorglosigkeit von Jugend. Dann streifst du deine Sandalen ab. Nackte Füße fänden besseren Halt auf den Dachziegeln, dessen bist du dir sicher. Immerhin schätzt du die Möglichkeit abzustürzen, richtig ein. Aber du fühlst keine Angst. Schnell ist das Dachfenster geöffnet, da steigst du schon mit den Füßen voran auf das schmale, steile Dach, machst dich lang, deine Füße berühren fast die Dachrinne. Ein kurzer Schreck, weil das Dach so viel kürzer ist, als du gedacht hast, und du so viel näher über dem Abgrund hängst, aber du verdrängst jedes Aufkommen von Angst. Die kannst du jetzt nicht gebrauchen, macht unsicher und führt erst Recht zu Unfällen. Nach hinten auf deine Hände gestützt schiebst du deinen Po mit angewinkelten Beinen Zentimeter für Zentimeter nach rechts, bis du bei der Dachgaube von Jutta ankommst. Vorsichtig richtest du dich auf und schaust ins Zimmer. Geschafft! Ein Kinderspiel! Innerlich jubelst du. Du klopfst leise an ihr Fenster. Jutta liegt mit Grippe im Bett. Gott, die wird einen Schreck kriegen! Das Zimmer ist genau wie deines eingerichtet. Sie wird dir direkt in die Augen sehen, wenn sie ihre aufmacht. Und da ist es schon passiert.
Ein Schrei, so laut, dass er bis zu dir durch das geschlossene Fenster dringt.
„Warte, halt dich fest! Ich komme.“ Geistesgegenwärtig ist sie, das musst du ihr lassen!
Und das tust du. Krallst deine Finger in die Dachziegel. Im Nachthemd öffnet Jutta mit hochrotem Kopf, was nicht nur vom Fieber herrühren mag, das Fenster und zieht dich schwer atmend ins Zimmer.
Unverzüglich entknotest du die Schnur an deinem Handgelenk und lässt sie fallen. Du hast sie nicht gebraucht. Dass sie vollkommen unnütz gewesen wäre, wärest du abgerutscht, dein Leben buchstäblich am seidenen Faden gehangen hat, kommt dir nicht in den Sinn. Du hast nur einen Gedanken: den Spieß umkehren, den Jungs eins auswischen, ihnen den Spaß an ihrem blöden Streich verderben. Wie eine Erscheinung willst du dich ihnen präsentieren, ihre ungläubigen Gesichter sehen, dich hocherhobenen Hauptes an deinen Platz setzen, ehe das Essen vorbei ist. Schon öffnest du die Zimmertür und rennst auf den Flur, ohne die Tür zu schließen. Für Erklärungen hast du keine Zeit. Rufst der dir entsetzt hinterherschauenden Jutta nur zu: „Ich erzähl dir später, was los war.“
Du freust dich diebisch auf die verblüfften Gesichter deiner Tischgenossen. Denn du bist inzwischen davon überzeugt, dass sie alle bei diesem Streich mitgemacht haben.
Was du allerdings nicht erwartet hast, ist die Ohrfeige, die Matthias dir vor aller weitgeöffneten, schreckstarren Augen verpasst, als du erzählst, auf welchem Wege du dein Zimmer verlassen hast.
„Bist du verrückt geworden?“
Dir brennt die Wange.
„Nein, bin ich nicht. Aber du vielleicht. Betrachte mich als deinen älteren Bruder, den du doch immer haben wolltest! Darum darf ich das, damit du dich nicht noch einmal so in Gefahr begibst.“
Du reibst dir immer noch die Wange und hörst Hans murmeln: „Wer nicht hören will, muss fühlen!“
An diesem Abend lässt Matthias dich nicht aus den Augen, schüttelt öfter sein weises Haupt oder fasst sich in den Bart, als müsse er noch immer an deine halsbrecherische Kletterei denken.
Die Stimmung in der Kneipe ist bombig, als ihr alle, einschließlich Hubert, eintretet. Das ist sofort zu merken. Zigarettenqualm kommt euch entgegen und gerade spielt Rainer ein Solo. Die Stühle sind schon alle besetzt, zum ersten Mal auch mit ein paar Frauen. Du kennst keine. Entweder sind es Freundinnen von externen Kommilitonen oder aber Hannes hat auch in der PH Reklame gemacht.
Dich beschleicht ein merkwürdiges, bisher unbekanntes Gefühl. Du bist bei deinem letzten Besuch der Wicküler-Kneipe unter lauter Männern die einzige Frau gewesen und hast es genossen.
Hannes´ Trompetensoli sind ´ne Wucht. Du zählst die Biere nicht, die dir gereicht werden.
Am Sonntag schläfst du deinen ersten Rausch aus. Erscheinst erst zum Mittagessen in der Mensa. Innerlich gewappnet für die zu erwartende Hänselei deiner Männer, weil du zu tief ins Glas geschaut hast und deshalb nicht zum Frühstück aufgetaucht bist. Aber nein, du hast dich geirrt. Kein Spott, Rainer ist noch gar nicht aufgelaufen und die anderen verhalten sich ungewöhnlich ruhig, sie haben alle einen Brummschädel. Außer Matthias, der dich weit nach Mitternacht kavaliersmäßig nach Hause gebracht hatte. Der strotzt nur so vor Gesundheit und Aufgeräumtheit.
„Wie lange haben die gestern noch gemacht?“, fragst du Jaime leise, der heute auch für seine Verhältnisse blass um die Nase aussieht.
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