Das sind derart staunenswerte Neuigkeiten, dass sich ein paar Tage simulierter Krankheit jederzeit rechtfertigten lassen, findest du. Du nimmst dir vor, Jaime auszuhorchen, ob er vielleicht schon wüsste, wo er seine missionarische Tätigkeit später ausüben will. Vielleicht hat er ja auch Südseeinseln mit ihren Naturvölkern im Sinn wie ehedem Gauguin auf Tahiti, obwohl die inzwischen bestimmt längst christianisiert waren. Aber darum geht es dir eigentlich gar nicht. Deine Neugier bezieht sich eindeutig auf die Frage oder Möglichkeit einer freien Sexualität. Außer mit Jaime, wüsstest du nicht, mit wem du darüber reden könntest, ohne dich gleich dem Verdacht eines zweideutigen oder besser gesagt eindeutigen Angebots auszusetzen. Jaime hat schon öfter überraschend unkonventionelle Meinungen geäußert, die dir imponierten. Außerdem, das musst du dir eingestehen, fühlst du dich von ihm seltsam angezogen, seit er dir in seinem Zimmer mit seiner wohltuenden Altstimme eines seiner Gedichte vorgetragen und ins Deutsche übersetzt hat. Es ging dabei um das Entstehen der Erde oder einer Vulkaninsel, du hast es nicht genau verstanden, weil seine deutsche Aussprache manchmal etwas abenteuerlich ist.
Er hat es dir erst in seiner Muttersprache frei vorgetragen, dich dabei mit seinen dunklen Samtaugen schier hypnotisiert. Du bekamst sofort Gänsehaut. Dann las er die deutsche Übertragung:
Mit Feuers Gewalt
ward Erde erhoben
sie kam zur Gestalt
zwischen Meereswogen
und stemmte sich stur
gen des Winters Kräfte
aus diesem Grund nur
da zog sie die Säfte
die das Leben braucht
zwar kämpfend und ringend
oft hitzig geraucht
doch gute Frucht bringend.
Wie er gleichzeitig sprechen und sich eine Zigarette an der nächsten anzünden konnte, ohne sich beim Inhalieren am Rauch zu verschlucken, blieb dir ein Rätsel. Dass er Kettenraucher ist, belegte die von Kippen überquellende große, rotgeäderte steinerne Schale, mit der man ohne Probleme jemanden hätte erschlagen können.
Weil du die rauchgesättigte Luft in seinem nicht sehr großen Zimmer – aber immerhin etwas größer als dein eigenes Kabuff – nicht mehr länger ertragen konntest, dich jedoch nicht trautest, ihn zu bitten, das Fenster zu öffnen, da ihn der Qualm anscheinend nicht störte, verließest du ihn früher als dir eigentlich lieb gewesen wäre. Dass er Gedichte schrieb, dass er sie dir vorlas, gab dir das Gefühl, erwählt zu sein. Du hast später Matthias gegenüber mal beiläufig erwähnt, dass Jaime ein Dichter sei, um zu erfahren, ob die anderen von seiner heimlichen Leidenschaft wussten. Hast aber nur ein „ach was?“ geerntet. Offenbar bist du die einzige, die er teilhaben lässt an seiner dichterischen Ader, denn wenn Matthias davon nichts gewusst hat, dann die anderen erst recht nicht.
Der tägliche Wollschal wird dir bald zu warm und du gibst deine Simulation auf. Die inzwischen verschlungenen Sexbücher hast du wieder in den Koffer zurückgelegt. Dein sexueller Aufklärungsbedarf ist fürs erste gedeckt. Jetzt müsste dein neues, theoretisches Wissen um geschlechtliches Verhalten im Allgemeinen und im Besonderen nur noch in Praxis umgesetzt werden können. Holde Theorie benötigt doch immer die Praxis als Korrektiv und umgekehrt. Das hatte schon Aristoteles gelehrt. Aber bist du überhaupt zu einer befreiten Sexualität fähig bei der restriktiven Sexualmoral deiner Generation? Wie könnte es dir gelingen, die Fesseln deiner verklemmten Erziehung abzulegen? Wäre eine sexuelle Revolution an der Kirchlichen Hochschule überhaupt denkbar? Du brauchst nur an diese christliche Lieder klampfenden Jünglinge aus dem Siegerland denken, die sich allabendlich im ESG-Zentrum versammeln, von denen du immer wieder angequatscht wirst, doch mal vorbeizuschauen oder nur an Christiane, die dir im Damenstift täglich vor Augen kommt und die immer so aussieht, als hätte sie ein Gebetbuch verschluckt und könne nicht anders als fromme Sentenzen ausspucken. In Anbetracht all dessen erscheint dir eine sexuelle Revolution an der KiHo wie ein Witz, über den niemand lachen kann.
Leicht verschämt gestehst du dir ein, dass Jaime dich erotisch anzieht. Nur darum interessiert dich das Thema so. Mit seiner olivefarbenen Haut, der schwarzen Haarpracht und dem gepflegten Kinnbart sieht er aus wie ein orientalischer Märchenprinz, hast du gedacht, als du dich gleich am ersten Tag ohne zu zögern auf den freien Platz zu seiner Rechten gesetzt hast, noch ehe du die anderen vier Männer überhaupt wahrnahmst. Dass er mindestens einen Kopf kleiner ist als du, bemerktest du erst beim Verlassen der Mensa. Das hat dich eigenartig wehmütig gestimmt. Der Märchenprinz und du, ihr könntet niemals ein Paar werden. Allein schon diese anerzogene Vorstellung, dass der Mann größer zu sein hat als die Frau, beweist ja ..., was eigentlich? Patriarchales Denken natürlich. Als ob sexuelle Anziehung der Geschlechter von der Körpergröße abhinge. Es ging und geht bei derartigen Regeln einzig und allein darum, die Frau zu ihrem Mann aufschauen zu lassen, damit der, als ihr Herr und Meister auf sie herab schauen kann. Die Frau hat dem Manne immer untergeordnet zu sein, äußerlich wie geistig. Hatte das nicht schon Paulus konstatiert? Du müsstest Jaime mal fragen, ob er weiß, aus welchem Paulusbrief diese überholte Forderung stammt. Dass Hubert dich bei den Griechischabenden oft länger mit verklärtem Blick anschaut, hat dir erst gestern Jutta eröffnet. „Ines, unser Professor ist verliebt in dich!“
„Red keinen Quatsch, der schaut immer wie ein Mondkalb.“ Nein, Hubertus ist lieb, hätte sogar die richtige Größe, kommt aber als Liebhaber nicht in Frage. Er ist dir zu wenig männlich. Du verscheuchst den Gedanken schnell wieder, hast schließlich dein Studium nicht begonnen, um dir hier einen Mann zu angeln, trotz der überwältigenden Auswahl. Aber, von einem Mann begehrt zu werden, gefällt dir ohne Zweifel. Welche Frau wünschte sich das nicht?
Ehe du dich in weitere erotische Fantasien verstricken kannst, geschieht etwas, das den Alltag an der Kirchlichen Hochschule plötzlich unterbricht. Und euer aller Verhalten beeinflussen wird.
Die Leiche einer PH-Studentin wird neben dem Bismarckturm gefunden. Ermordet!
Die PH liegt in Sichtweite der Kirchlichen Hochschule. Dort gibt es naturgemäß jede Menge mehr weibliche Studenten als bei euch. Möglicherweise sogar 100%. Jeden Tag seht ihr nun Polizeipatrouillen das Gelände abschreiten. Matthias verfügt mit Donnerstimme: „Du gehst nicht mehr alleine spazieren!“
„Aber, ich kann doch nicht immer warten, bis einer von euch Zeit hat, mich zu begleiten. Außerdem ist der Mörder durch die Polizeipräsenz bestimmt abgeschreckt und über alle Berge“, versuchst du Rübezahl abzuwehren, denn du hasst eine derartige Beschneidung deiner bisherigen Freiheit. Aber er lässt deine Argumentation nicht gelten, begleitet dich tagelang bei jedem Schritt, den du tust. Auf der einen Seite wirklich rührend, auf der anderen aber auch lästig. Wenn du ihn in einem Seminar weißt, das du nicht besuchst, machst du dich trotz seines Verbotes alleine auf. Er ist nicht mein Vater, er kann mir nichts verbieten. Ich gehe nur auf dem Hauptweg bis zum Bismarckturm, nicht über die Rasenflächen, die von Bäumen und Büschen, unter anderem einem Kirschbaum gesäumt sind. Da kann mir nichts passieren, jedenfalls nicht am helllichten Tag. Du musst dich einfach nach langem Sitzen in den Vorlesungen und Seminaren bewegen, brauchst auch beim Lernen die Bewegung, ganz wie die Stoiker, denkst du gerne, die in Athen zum Philosophieren extra eine Wandelhalle besaßen. Bald schon lässt du alle Vorsicht fallen, stiefelst wieder wie gehabt über die weichen Rasenflächen und wirbelst genussvoll mit den Füßen Herbstlaub auf. Aber als du bei deinem lautlosen Gehen plötzlich ein merkwürdiges Rascheln hinter dir hörst, bleibst nicht nur du stehen, sondern fast auch dein Herz. Nein, da war nichts, wahrscheinlich nur ein im Gebüsch pickender Vogel. Erleichtert gehst du weiter und schiltst dich schon Angsthase, als das Rascheln wieder anhebt. Kam es nicht auch näher als beim ersten Mal? Du beschleunigst deine Schritte, spürst Herzklopfen, schaust dich verstohlen um. Du überquerst den Rasen, so schnell du kannst und trittst reumütig den Rückweg auf dem gepflasterten Weg an, wo es deutlich heller ist.
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