Etliche weitere Narben zieren deinen Körper, besonders die Knie wurden oft in Mitleidenschaft gezogen, weil du über deine eigenen Füße stolpertest. Du hast immer geglaubt, dass das häufige Fallen daran lag, dass du so schnell hoch geschossen warst, deine Füße schon mit 13 Größe 43 erreichten und dir Herrenschuhe gekauft werden mussten. Aufrecht gehen und Füße heben fiel dir schwer. So latschtest du umher, als hättest du den Kummer der ganzen Welt zu tragen und der sei zu schwer für dich dünnen, langen Lulatsch, zu dem du in der Pubertät wurdest. Und dann fielst du wieder hin, weil du in die Gegend schautest und die Hindernisse vor deinen Füßen nicht wahrnahmst. An Schmerzen kannst du dich nicht erinnern, wohl aber an das Lustgefühl, den juckenden Schorf abzupulen.
Seltsam, was für Erinnerungen ein schäbiger Koffer heraufbeschwören kann! Erinnerungen, die du schnell wieder vergessen willst. Auch die an das Mädchen-Lyzeum Unter den Buchen willst du lieber verdrängen, obwohl du eine gute Schülerin warst. In der Oberstufe nanntet ihr die Anstalt KZ unter den Buchen. Die Sitten waren streng damals Ende der Fünfziger. Lehrer, unter ihnen wenige weibliche Lehrkräfte, pflegten mehrheitlich einen autoritären Erziehungsstil. Vielleicht war sogar der eine oder andere Nazi darunter. Aber das konntest du mit 12 und 13 noch nicht erkennen, doch der Stil war dir vertraut, von deinem Vater, der Hitler glorifizierte, weil er die Autobahnen hatte bauen lassen und die Arbeitslosigkeit bekämpft hatte. Später dann hast du gegen deinen Nazi-Vater opponiert, auch wenn er nur einer der vielen Mitläufer gewesen sein mochte. Von der Rassenideologie und der millionenfachen Judenvergasung erfuhrst du erst im Religionsunterricht am Lyzeum. Im Geschichtsunterricht seid ihr später nur bis Bismarck gekommen. Deine Eltern wollten davon wie die Mehrheit der Deutschen nichts gewusst haben.
Nein, dieser Koffer zu deinen Füßen, steht nicht im elterlichen Zimmer des teilweise ausgebombten Hauses im Ruhrgebiet, er steht auf dem Dachboden eines Studentenwohnheimes in Wuppertal und beschwört nur auf Grund seiner äußeren Beschaffenheit unangenehme Erinnerungen herauf. Schon lange hast du einen solchen Pappkoffer mit den verrosteten Schnappschlössern nicht mehr gesehen. Heute besitzt man Lederkoffer oder einen aus Kunstleder. Deiner ist blau, wahrscheinlich Kunstleder. Du glaubst nicht, dass deine Eltern dir einen teureren Koffer aus echtem Leder gekauft haben. War auch egal. Du bist nur froh gewesen, dass du deine wenigen Habseligkeiten in ihm unterbringen konntest, um nach Wuppertal zu deinem Theologiestudium aufbrechen zu können. Du hättest auch den alten Pappkoffer genommen, den die Mutter immer noch besaß, wenn das Geld für einen neuen nicht gereicht hätte. Du wolltest nur weg von einem Zuhause, in dem du dich nie zu Hause gefühlt hast.
Die unerwartete Reminiszenz an die Nachkriegsjahre in einer ausgebombten Stadt ist tatsächlich nur einem Koffer geschuldet. Aber, was macht der hier auf dem Dachboden eines studentischen Wohnheims, genauer der durch eine Sperrholzwand abgetrennten Etage für die fünf Theologiestudentinnen – euphemistisch Damenstift genannt - gegenüber ungefähr hundert männlichen Studenten, die jenseits der Sperrholzwand und in zwei weiteren Gebäuden auf der Hardthöhe, dem sogenannten Heiligen Berg als Interne wohnen? Alle Studenten müssen doch ihre Zimmer am Ende jedes Semesters räumen, weil in den Räumen der Kirchlichen Hochschule regelmäßig Tagungen stattfinden und die Zimmer für die Teilnehmer gebraucht werden. Welche frühere Studentin hat ihren Koffer hier gelassen und warum? Und welche Schätze mag er bergen?
Du stellst die Emailleschüssel mit deinen auf einer Elektroplatte ausgekochten Unterhosen auf dem Bretterboden ab, um sie über die Leine zu hängen. Aber vorher willst du den Deckel des Koffers öffnen.
Die Schlösser sind eingerostet, offenbar länger nicht geöffnet worden. Eine der früheren im Vergleich zu heute noch selteneren Studentinnen, eine der Pionierinnen der evangelischen Theologie hat ihren Koffer hier gelassen, aber warum? Du beginnst mit aller Kraft unter Zuhilfenahme deiner Fingernägel die Schlösser zu bearbeiten. Dass er abgeschlossen sein könnte, kommt dir nicht in den Sinn. Je mehr Widerstand du verspürst, umso mehr steigt deine Neugierde, zu erfahren, was eine frühere Kommilitonin an Kleidung oder vielleicht sogar Mitschriften von Vorlesungen hinterlassen haben mag. Wahrscheinlich eine Examenskandidatin, denn wer unter den Erstsemestern besitzt heute noch so einen Kriegskoffer?
Nein, zu dumm, so klappt das nicht. Schon ein Fingernagel abgebrochen.
Du erhebst dich, klopfst den Staub aus deinen Jeans und tust erst einmal, was du ursprünglich hast tun wollen, als du hier heraufgestiegen bist. Hängst also deine Unterhosen auf die Leine. In Gedanken nur mit dem vertrackten Problem des Kofferöffnens beschäftigt, lässt du in der Eile gleich zwei Wäschestücke in den Staub fallen. Egal, du hängst sie wieder auf. Vielleicht lässt sich der Staub nach dem Trocknen einfach ausklopfen.
Du steigst in die Kaffee-Küche hinunter und findest tatsächlich den Torso eines Messers mit abgeplatztem Bakelitgriff in der Schublade der kleinen Spüle.
Einmal gehebelt, das Schloss springt mit einem metallischen Klicken auf, jetzt das zweite, mit dem Messer gar kein Problem. Deckel aufgeklappt! Hoffentlich kommt niemand in die Küche und hört dich hier oben rumoren. Du willst dich auf keinen Fall beim Vergreifen an fremdem Eigentum erwischen lassen.
Oooha...! Keine Kleidung, nein, Bücher, ein Koffer voller Bücher! Sofort denkst du an dein bescheidenes Stipendium; Fachliteratur käme dir gerade recht. Da stockt dir der Atem und du fühlst Röte in dein Gesicht steigen.
Masters und Johnson, Die sexuelle Reaktion. Dann ein dicker Band mit dem vielversprechenden Titel Studentensexualität. Ein Tropfen fällt auf das Buch. Du wischst mit dem Arm über deine schweißnasse Stirn. Gott, ist das heiß hier oben! Du beginnst hektisch zu wühlen. Alfred Charles Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau und des Mannes in einem weiteren Band. Margaret Mead, Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften. Und von der gleichen Verfasserin ein zweites in Englisch, Male and female. Du stapelst Türme neben dem Koffer und alles wieder zurück. Achtest auf die richtige Reihenfolge. Erschrickst vor deiner eigenen hechelnden Atmung, unterdrückst krampfhaft mit zweimaligem Schlucken den aufkommenden Husten. Aus den Büchern ist eine Staubwolke entwichen. Wahnsinn! Unglaublich! Lauter Sexbücher, Aufklärungsschriften, sexuelle Ratgeber. Du kennst außer Margaret Mead keinen der Autoren, greifst dir die beiden oberen Bücher, legst sie in die nun leere Plastikschüssel, verschließt den Koffer und beeilst dich, ungesehen in dein Zimmer zu gelangen.
Wie peinlich wäre es, wenn Christiane, die Pietistin aus dem Siegerland dich mit den beiden Büchern erwischen würde. Sie ist immer so übertrieben freundlich mit ihrem eigenartig mildtätigen, christlichen Lächeln auf den Lippen, als müsse sie ihrem Namen alle Ehre machen. Sie würde sich bestimmt erkundigen, was du da lesen willst, sich bekreuzigen und schnell abwenden. Jutta, weniger altbacken, die Bürgerliche mit dem schicken Karmann Ghia, die Tochter aus gutem Hause, die einzige unter allen Studenten mit eigenem Auto, das gehörigen Neid erregt, wäre vielleicht nicht so pikiert, würde sie dich mit der aufregenden Lektüre erwischen. Ihr traust du durchaus zu, dass sie sich interessiert an deinem delikaten Bücherschatz zeigen könnte. Aber, wer kann hinter die Fassade eines Menschen schauen? Jutta wirkt fröhlich, offen, aber nach erst vierzehn Tagen kennt man sich noch nicht wirklich gut. Ihr Vater sei Journalist und hielte sich oft im Ausland auf. Sie scheint ein sehr enges Verhältnis zu ihm zu haben und vermisst ihn oft. Schreibt ihm auch jede Woche mindestens einen Brief. Das hat sie schon preisgegeben. Man stelle sich vor, sie schriebe ihm von den Sexbüchern, und der machte daraus eine Schlagzeile: Theologiestudentin klaut Sexbücher! Skandal an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal.
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