Anna Milow - Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

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Dieses Buch schildert Episoden aus dem Leben eines Kindes, das in den 60er- und 70er-Jahren aufwuchs. Der 2. Weltkrieg mit seinen traumatischen Erfahrungen wirkt auch noch 20 Jahre nach Kriegsende generationenübergreifend.
Viele der Erwachsenen damals waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Sie waren nicht fähig oder willens, sich mit den Nöten ihrer Kinder zu befassen. «Euch geht es doch gut! Ihr hättet mal zu unserer Zeit leben sollen!» Mit solchen und ähnlichen Sprüchen wurden die Kinder abgespeist, ihre Sorgen und Ängste nicht zur Kenntnis genommen. Erst mit dem Abstand von 50 Jahren melden sich immer mehr Betroffene und berichten von den Erfahrungen in ihrer Kindheit. Sexuelle und gewalttätige Übergriffe in Institutionen wie Kirchen und Heimen, sind öffentlich geworden, sie totschweigen und bagatellisieren zu wollen funktioniert nicht mehr. Dabei wird häufig ausgeblendet, dass die Institutionen nur die Spitze des Eisberges sind.
In diesem Buch erhebt sich, stellvertretend für viele, die Stimme einer Betroffenen. Mit dem klaren Blick eines Kindes schildert sie ihre Erlebnisse im ländlichen Rheinland. Das Aufbegehren gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen in den 70ern provozierte in der ländlichen Gegend oft einen feigen Widerstand an Küchen- und Stammtischen gegen die Aufrührer. Es herrschte nach wie vor eine Atmosphäre von Obrigkeitshörigkeit, Gewalt und bigotter Frömmigkeit, die zwar mehr und mehr politisch unkorrekt wurde, damit aber eine neue, für Betroffene grausame Qualität in der Heimlichkeit und Schweigepflicht bekam. Die verhängnisvollen Handlungsmuster des 3. Reiches waren omnipräsent.
Um diese Dynamik wussten die Täter sehr genau und nutzten das für ihre Zwecke. Kinder leiden ihr Leben lang an den Folgen der Verbrechen, die an ihnen begangen wurden, genau wie an der Ignoranz des Umfeldes.
Dieses Buch ist für Eltern, Menschen in erzieherischen Berufen, Therapeuten und historisch Interessierte äußerst lesenswert.

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Anna Milow

Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

Erinnerungen eines Kindes

Imprint

Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

Anna Milow

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2014 Anna Milow

All rights reserved

ISBN: 978-3-7375-1262-6

Umschlaggestaltung: Lektoratsservice Erik Kinting

www.buchlektorat.net— Lektorat.Kinting@gmx.de

Am Anfang …

… schien die Sonne durch das Blätterdach des alten Süßkirschbaumes. Der Wind bewegte die Blätter leise. Ich liebte dieses Rauschen und die Sekunden des totalen Glücks; die warme Luft und den Wind, der mir kühl das Gesicht streifte. Die Luft roch nach Frühling. Die Natur trug das Giftgrün des Mais und die Blüten um mich herum platzten auf. Mit geschlossenen Augen saß ich in der Hocke auf den Steinen des Eingangs zum Wintergarten und genoss das Leben. In diesen kostbaren Minuten war es mir egal, dass meine Lederhose mir immer ein wenig zu klein war und mein Hemd unter den Armen scheuerte. Dort, wo das Speckpölsterchen meiner kleinen Hand auf den Speck meines Armes traf, verlief eine Rille. Ich beobachtete eine kleine Spinne, die über meine Hand krabbelte und überlegte, wie groß diese Hand-Arm-Schlucht wohl für sie wirkte. Ich lauschte auf das Gebrumm der Hummeln in der weißen Rispenspiere, auf die leisen Töne eines kleinen Flugzeuges über mir und entfernte Stimmen, die aus den Kuppelfenstern vom Haus nebenan an mein Ohr drangen. Es war friedlich.

Dann hörte ich sie. Erst leise, bald immer lauter. Seine Schlüssel. Ich wusste, er trug sie gewöhnlich in seiner rechten Hand und klimperte mit ihnen. Langsam kamen die Schlüssel näher. Jäh war mein Frühlingsglück zu Ende. Mein Herzschlag wurde lauter – mit jedem Schritt, den die Schlüssel herankamen …

Der Geruch nach Diesel, alten Decken und Hund mischte sich mit dem abgestandenen Geruch in der Jagdhütte. Die Tür der Hütte stand sperrangelweit auf und es dauerte eine Weile, bis die Luft im Inneren nach Wald roch. Verstört und unendlich ohnmächtig hatte ich neben ihm gesessen.

Der Landrover war über die Waldwege geruckelt. Es könnte schön hier sein , war es durch meine Gedanken geblitzt. Ich hatte mich an der Schönheit und dem wunderbar holzigen Geruch des Waldes nicht erfreuen können, ich hatte mich auf meine Flucht konzentriert. Innerlich. Ich musste rasch machen, dass ich wegkam. Meine Seele in Sicherheit bringen. Schnell. Geh! Lauf! Mach, dass du wegkommst! Schau' dich nicht nach mir um, wir treffen uns wieder! Sie wollte mich nicht alleine lassen. Konzentration. Verzweifelt scheuchte ich sie weg.

Bald hätte er die Hütte erreicht. An der Oberfläche musste ich kommunikationsfähig bleiben. Er sprach zu mir. Meinen Körper könnte ich nicht retten. Diesmal wieder nicht , resignierte ich, und die unendliche Traurigkeit und Verzweiflung breitete sich wie dichter Nebel in mir aus. Ich war mit ihm allein. Die Hunde hatte er aus dem Auto gelassen. Jagdhunde. Sie liefen hinter dem Auto her. Die Hunde liebten diesen Dauerlauf. Bald würden sie uns wieder eingeholt haben. Ich hasste den Geruch ihres Fells. Er war überall. In der Hütte, an den Decken, auf dieser riesigen Couch. Diese furchtbare Couch!

Fatal, wie der Geruch die Erinnerung zitiert. So alltagsgrausam! Ich will, dass es vorbei ist! Je mehr ich es ausradieren will aus meiner Erinnerung, desto gnadenloser, deutlicher schiebt sie sich in den Vordergrund. Widerlich von ihr, der erbarmungslosen Erinnerung! Ich habe eine Wut! Auf mich und diese Ohnmacht, dieses Ausgeliefertsein!

Der Büstenhalter

Von der nahegelegenen Hügelkuppe betrachtet, wirkte unser Dorf wie aus dem Bilderbuch. Die Kirche mit dem Friedhof bildete die Mitte, daneben gab es den Dorfplatz, auf dem drei große Linden wuchsen und ein natürliches Dach für die Märkte dienstags und donnerstags bildeten. Um den Markplatz herum waren, wie bei einer Modelleisenbahn, Fachwerkhäuschen aufgereiht. Die Inneren nannten die Menschen im Dorf diese schwarz-weißen, uralten Häuschen. Verwinkelte Gassen und enge Kopfsteinpflasterstraßen wurden nach und nach zu einer Fußgängerzone. Hier befanden sich auch die wichtigen Läden und Institutionen. Es gab eine Apotheke, einen Arzt, eine Grundschule, einen Schuster, der auch Schuhe verkaufte, einen Lebensmittelladen und einen Klimbim-Laden, in dem man alles kaufen konnte, was man brauchte, es aber im Lebensmittelladen nicht bekam.

In einem äußeren Kreis um die Dorfmitte lagen ausgedehnte Wiesen, manchmal mit Bebauung. Auf einer dieser Wiesen, an der Hauptverkehrsstraße, stand auch unser Haus. Klein, schwarz-weiß und schief. Genau gegenüber diesem kleinen Häuschen stand der Friseurladen meines Großvaters und direkt daneben das Haus meiner Tante Sophie. Dort gab es auch einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Bank und eine Post. Und dann war da am Ortsausgang noch Gertruds Laden. Sie führte alles für die moderne Frau: Wolle, Nähgarn, Pullover, Unterhemden und Unterhosen.

Selbstverständlich gab es im Dorf auch Kneipen. In der direkt an der Kirche trafen sich die Männer nach dem Sonntagsgottesdienst zum Frühschoppen. Einige gingen auch direkt dorthin und nahmen nicht erst den Umweg über die Kirche. Ab ein Uhr mittags wurden die Kinder des Dorfes geschickt, die Väter und Großväter zum Mittagessen zu holen. Murrend und knurrend und meistens ziemlich schwankend kamen sie nach Hause, um dann den Sonntagnachmittag laut schnarchend auf der Couch zu verbringen. Kurz vor dem Abendessen standen sie wieder auf, um sich zu wundern, wie schnell doch die Sonntage immer vergingen. „Wenn man mal frei hat, dann ist es schon vorbei! Furchtbar!“, bemitleidete sich mein Großvater dann.

Am kleinen Ölbach, der durch das Dörfchen plätscherte, stand die Kneipe, in der sich genau dieselben Männer donnerstags abends zum Kegeln trafen. Die meisten von ihnen mussten sich vor dem Kegeln umziehen, so wollten es ihre Frauen und Töchter. Es war Frauensache, den Männern die Kleidung herauszulegen. Es sah fast so aus, als gäbe es einen kleinen Wettbewerb, wer seinen Mann oder Vater am besten anzog, den feinsten Zwirn kaufte.

Mein Großvater versuchte jeden Donnerstag, sich heimlich, still und leise an meiner Mutter vorbeizuschleichen.

„Saach dinger Motter, ich wör ald fott!“, forderte er mich leise konspirativ auf und öffnete langsam und vorsichtig die Haustür. Das Knarren dieser schweren Tür hörte man durch das ganze Haus.

„Warte, Vati!“, erschütterte dann die Stimme meiner Mutter unser Haus und das der Nachbarn gleich mit. „Warte – was hast du an?!?“

„Hach“, zog mein Großvater die Luft zwischen den Zähnen ein, „verdammich, se hat et widder gemerkt!“

Grimmig schnaufend quälte er sich mit seinem Lungenemphysem wieder die Treppe hoch, um sich dann unter lautem Gemeckere meiner Mutter umziehen zu lassen. Niemals hätte er sich selbst umgezogen. Das war ihm viel zu lästig. Während Sie ihm die Hose über die Schuhe zog, schimpfte sie ihn aus: „Was sollen denn die Leute denken, wie ich dich laufen lasse? Mensch, Vati! Jedes Mal dasselbe mit dir! Wie siehst du aus! Das Hemd musst du auch ausziehen! Gut, dass deine Frau das nicht mehr erlebt! Wie du jetzt immer herumlaufen würdest, wenn ich mich nicht um alles kümmern würde!“

Mein Großvater machte dann jedes Mal ein Gesicht, als wollte er in Tränen ausbrechen. „Nä, wat bin ich für ene ärme Düvel. Wat werde ich hier drangsaliert und terrorisiert!“, bemitleidete er sich und hielt seine Arme weit von sich, als wolle er gleich losfliegen, damit meine Mutter ihm das Oberhemd ausziehen konnte.

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