Aber zum Glück kommst du unbemerkt in dein Zimmer und legst die heißen Bücher mit dem Deckblatt nach unten auf deinen schmalen Schreibtisch. Ein Blick auf deine Armbanduhr – herrje! Das Abendessen in der Mensa hat längst begonnen. Deshalb ist dir niemand begegnet. Jetzt aber schnell! Hoffentlich haben deine Männer dir etwas übrig gelassen.
Deine Holzsandalen klappern auf den Treppenstufen. Du nimmst eine Abkürzung über den Rasen, fliegst an Haus II vorbei und betrittst außer Atem die Mensa. Du streichst dir über die linke Wange; ja, wieder heiß geworden und natürlich rot angelaufen. Kein Wunder bei dem aufregenden Fund und deinem Sprint. Du hasst es, dieses Rotwerden, aber bei so hellhäutigen Typen wie bei dir liegen feinste Blutgefäße dicht unter der Haut, erweitern sich beim geringsten Anlass und schon glüht man. Deine alte Biolehrerin hat dir das erklärt, als du mal wieder bei einer Falschantwort rot angelaufen bist. Aber die wissenschaftliche Erklärung hat dich nicht beruhigt. Zumal unklar bleibt, warum sich immer nur deine linke Gesichtshälfte oder auch nur dein linkes Ohr dermaßen verfärbt. Lieber wäre dir eine dunkle, sonnengebräunte Haut, die nicht sofort jede Emotion verrät, so wie die von Jaime, dem Portugiesen an deinem Tisch, der dir jetzt entgegenblickt und einladend den Stuhl zu seiner Rechten vorzieht.
„Danke! Habt ihr mir noch was übrig gelassen?“ Dein schneller Blick über den Tisch erfasst den leeren Brotkorb, aber noch ausreichend Salami und Käse.
„Ich hol Nachschub“, bietet da schon Matthias an, alias Rübezahl, wegen seines roten Vollbarts.
„Hier nimm die Kanne, der Tee ist auch alle.“ Der schüchterne Hubert ist aufmerksam wie immer. Er beteiligt sich selten von sich aus an euren lebhaften Tischgesprächen, hört aber immer sehr gut zu, was sich beweist, wenn er dezidiert um seine Meinung gefragt wird. Dann vermag er die bisher geäußerten Gedanken kurz zusammenzufassen und fügt entweder einen eigenen hinzu oder schließt sich einer schon geäußerten Meinung an. Wegen dieser Fähigkeit hat er den Spitznamen der Professor erhalten.
Ehe Matthias mit dem Brot zurück ist, hast du dir schon eine Käsescheibe gerollt und in den Mund gesteckt. Plötzlich bist du hungrig wie ein Wolf. Auch eine Salamischeibe verschwindet blitzschnell in deinem Mund.
„Na, na, in der allergrößten Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot“, sagt Hans, der neben dir sitzt und so tut, als müsse er der Kleinen Manieren beibringen. Dabei bist du größer als er, nennt dich aber gerne unsere Kleine, weil du ihn an seine kleine Schwester erinnerst, hat er mal behauptet, als du dich beschwert hast. Er ist ein unermüdlicher Sprücheklopfer, bringt damit alle zum Lachen. Nur zu dem Schlüssel, den er immer um den Hals trägt, ist ihm noch kein dummer Spruch eingefallen, dazu schweigt er. Nachdem Matthias gesagt hat, dass jeder Mensch ein Geheimnis brauche, ist der Schlüssel kein Thema mehr unter euch.
Matthias kommt zurück, balanciert den Brotkorb wie ein Kellner auf einer Handfläche, stellt ihn vor dir auf den Tisch und schenkt dir Tee ein.
„Haben Majestät noch einen Wunsch?“
„Danke, nein. Lass mich nur essen.“
Du hörst Stühle rücken, sich entfernendes Gemurmel, die Mensa beginnt sich zu leeren; du bist glücklich, dass deine Männer dir noch weiter Gesellschaft leisten, obwohl sie fertig sind mit essen. Wie hat sich doch die Hausmutter nach den ersten Tagen gewundert, dass du nicht mit den vier anderen Damen an einem Tisch sitzt, sondern dich an diesen Männertisch gesetzt hast, wo du sofort willkommen geheißen worden bist. Ob die Hausmutter das mitgekriegt hat, weißt du nicht, wohl aber, dass sie deine Sitzplatzwahl nicht billigt.
„Fräulein Gerber, fürchten Sie sich denn nicht mit lauter bärtigen Männern am Tisch?“
Da erst hast du es bemerkt, an keinem der anderen Tische sitzen bärtige Studenten, allesamt gut rasierte und ordentlich gekleidete Bürgersöhne.
„Nein, ich werde hier gut behütet, kein Problem.“ Und das ist die Wahrheit gewesen. In der Liga der bärtigen Außenseiter fühlst du dich von Anfang an wohl und seltsamerweise selber nicht mehr als solcher wie all die Jahre am Mädchen-Lyzeum als einziges Arbeiterkind unter Töchtern von Rechtsanwälten und Ärzten. Als schwarzes Schaf unter lauter schwarzen Schafen fühlst du dich zum ersten Mal nicht mehr fehl am Platz.
„Gehst du gleich mit zur Andacht?“ Das ist Jaimes Stimme. Du blickst auf und siehst, dass Jaime Hubert meint.
„Nein, ich muss noch Griechisch für morgen machen.“
Das musst du tatsächlich auch noch. Eine prima Ausrede, sollte dir gleich Christiane über den Weg laufen, die dich schon mehrmals aufgefordert hat, sie zur Andacht zu begleiten oder zum Bibelkreis. Du hast bisher immer abgelehnt. Dir gefällt der missionarische Eifer nicht, den Christiane versprüht. Hätte Jaime dich gefragt, du wärst mitgegangen.
Zum Glück besucht Christiane als Zweitsemester den Griechisch II-Kurs und nicht den Anfänger-Kurs, sonst wäre es unvermeidbar, sie jeden Morgen um acht Uhr zum Unterricht in den Hörsaal zu begleiten, denn bestimmt würde sie solange auf dem Flur verweilen, bis du aus deinem Zimmer kämest. Kaum sagbar wie sehr du diese fürsorgliche Ader der Älteren hasst. Jutta ist auch bei Dr. Kaiser im Kurs, geht aber immer mindestens zehn Minuten früher in den Hörsaal hinunter, der genau unter dem Damenstift liegt. Du dagegen neigst zum Zuspätkommen, eine Unart, die du mit Hans teilst, den du oft genug morgens von Haus II über den Rasen angerannt kommen siehst. Rainer verschläft oft ganz und lässt sich die Hausaufgaben später von dir oder einem der anderen geben. Hubert und Jaime besuchen als Zweitsemester den Folgekurs und Matthias ist als Drittsemester als einziger mit Griechisch durch und quält sich mit Hebräisch ab.
„Mit dem griechischen Alphabet hatte ich keine Probleme, aber die hebräischen Buchstaben beherrsche ich noch immer nicht“, stöhnt er, wenn ihr euch beim Mittagessen trefft. „Außerdem begreife ich dieses merkwürdige Punktierungssystem nicht. Es soll uns angeblich helfen, Wörter überhaupt lesen zu können, denn Vokale gibt es nicht. Im Hebraikum kriegen wir sogar unpunktierte Texte. Das ist doch wirklich eine Schande“, schimpft er, wobei er seinen Rübezahlbart traktiert, als wolle er ihn abreißen. Manchmal schimpft er auch in rüder Gossensprache. Was nicht nur Jaime dazu bringt, die Augen erschreckt aufzureißen.
Da alle anderen noch keine Bekanntschaft mit der Sprache des Alten Testaments gemacht haben, auch nicht die AT-Vorlesung von Professor Niebusch besuchen, der auch Hebräisch unterrichtet, kann keiner mitreden, wenn Rübezahl am Tisch lautstark seinen Frust äußert. Daher erntet er zwar den einen oder anderen mitfühlenden Blick, aber euer Sprücheklopfer Hans lässt es sich nicht nehmen, einen passenden Spruch herauszuhauen: „Rübezahl, Rübezahl, vielleicht trafst du die falsche Berufswahl.“
Alle müssen lachen. Ihr findet, dass er wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Keiner sieht den künftigen Pastor in Matthias, der sein drittes und letztes Semester an der Kirchlichen Hochschule verbringt, hauptsächlich, um die alten Sprachen zu lernen, wie er behauptet, um danach nach Tübingen zu wechseln.
Merkwürdigerweise ist unter euch die Frage der Motivation für ein evangelisches Theologiestudium bisher einhellig nicht gestellt worden. Sie grenzt zu sehr an die Gretchenfrage und die wiederum zu nah an Gesinnungsschnüffelei. So denkst du. Und die anderen offensichtlich auch. Tatsächlich bist du froh darüber, dass deine Motive für dieses von Frauen in diesen Jahren noch höchst selten gewählte Studienfach nicht in Frage gestellt werden, denn du könntest bei dir keinen festen Glauben als Grund für dieses Studium verorten; nicht, wie Christiane, die ihre Glaubensüberzeugung wie eine Fackel vor sich herträgt, damit auch jeder sie leuchten sieht. Nur Jaime hat mal gesagt, dass er wie sein Vater später als Missionar, vielleicht nach Afrika gehen wolle. Diese Bemerkung haben alle kommentarlos hingenommen. Vielleicht, weil sonst niemand von euch diesen missionarischen Eifer besitzt, hast du gedacht.
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