„Was sagen Sie da?“, stotterte er und Gehweiler bemerkte, wie er zu zittern begann. „Was soll ich sein? Ein Mörder? Sie irren sich. Ich habe niemanden umgebracht. Warum sollte ich jemanden umbringen?“
Gehweiler winkte ab. „Sparen Sie sich Ihren Atem für später“, sagte er, während er zu Müller hinübersah, der offensichtlich Probleme hatte, Overbeck oder Leni zu erreichen. Es war am Abend, es gab nur den Weg über die private Handy-Leitung.
„Wenn du niemanden erreichen kannst, ruf beim Präsidium an. Die sollen dann jemanden schicken“, rief er Müller zu. Der winkte ab und begann sogleich zu sprechen. Gehweiler hörte nicht, was er sagte und mit wem er sprach. Er wandte sich wieder dem jungen Mann zu.
„Sie können alles der Kripo erklären. Sie wird bald hier sein, auf unserer Dienststelle, meine ich.“
„Ich habe nichts getan. Ich wollte doch nur …“
Gehweiler winkte ab. „Später.“
Müller kam auf sie zu. Das Handy hielt er noch in seiner Hand. „Ich habe Leni erreicht. Sie wird kommen. Overbeck auch. Und die Spurensicherung. Wir sollen auf der Dienststelle auf sie warten.“
„Was wir heute hier veranstalten ist ein reines Probetraining. Es kostet Sie nichts, ist völlig unverbindlich und Sie haben anschließend die Möglichkeit, zu entscheiden: Weitermachen oder feststellen, dass vielleicht eine andere Sportart für Sie geeigneter sein wird.“
Overbeck kniete im weißen Karateki und schwarzem Gürtel vor der Gruppe, die er in die kniende Haltung gebeten hatte. Eine Matte gab es keine und auf die Frage einer jungen Frau, wann man denn auf den weichen Unterlagen üben wollte, musste er ihr lächelnd mitteilen, dass dies vorerst nicht der Fall sein würde.
„Im Karate brauchen wir das nicht“, sagte er. „Später, wenn Sie sich entscheiden, sich auch in Aikido oder in-Jitsu oder beidem ausbilden zu lassen, dann werden auch Matten zum Einsatz kommen. Also eines nach dem anderen.“
Dann gab er einen Überblick auf das, was diejenigen erwartete, wenn die denn weitermachten.
„Sie werden üben müssen, bis jede Technik sitzt, jeder Handgriff. Alles muss in Fleisch und Blut übergehen. Deshalb werden wir die ersten Angriffs- und Abwehrtechniken in der Gruppe und in der Bewegung ausführen. Dazu gibt es Kommandos von mir, damit die Techniken gemeinsam ausgeführt werden können.“
Er sah, wie sich zwei junge Männer mit skeptischen Blicken ansahen.
„Ich weiß, was Sie denken“, rief ihnen Overbeck zu. „Vergessen Sie Ihre Bedenken. Es ist kein militärischer Drill. Es ist einfach die Art und Weise des Trainings, wie sie seit Bestehen dieser Kampfkunst Anwendung findet. Die Übungen müssen in Fleisch und Blut übergehen, nur dann wird man im Falle eines Angriffs routinemäßig und automatisch das Richtige tun.“
Overbeck unterbrach seine Ansage, denn im Nebenraum erklang die Anrufmelodie eines Handys.
„Es ist meines.“ Leni erhob sich aus ihrer kauernden Position und begab sich in den Umkleideraum. Kurze Zeit später kam sie zurück und flüsterte Overbeck zu: „Es ist Gehweiler, ein Kollege der Inspektion Hermeskeil. Sie haben einen jungen Mann am Tatort in Hermeskeil festgenommen. Sie schließen nicht aus, dass er der Mörder ist.“
Overbeck nickte und überlegte kurz. Dann traf er einen Entschluss und wandte sich an seine angehenden Schüler in Punkto Selbstverteidigung.
„Ich glaube, Sie haben verstanden, worum es mir geht, wenn Sie sich entschließen, diesem Dojo beizutreten. Überlegen Sie es sich. Ich würde mich freuen, Sie im nächsten Training wieder begrüßen zu können. Und noch eines.“
Die Gruppe sah ihn erwartungsvoll an.
„Im Hinblick darauf, dass wir unsere Zusammenkunft heute Abend vorzeitig beenden müssen, wird das nächste Training für Sie ebenfalls kostenfrei sein. Wir sehen uns.“
„Sie haben den Mörder von Dellmann und Kerner festgenommen?“, fragte Overbeck, während die angehenden Karategi das Dojo verließen. „Wie sicher sind sie sich?“
„Sie scheinen sich überhaupt nicht sicher zu sein. Aber der Mann macht ihnen gegenüber keinerlei Angaben. Auch nicht zu seiner Person. Hinzu kommt, dass der Mann in dem Haus am Waldrand festgenommen wurde. Was also sollen sie denken?“
„Wir müssen also hin.“ Es war eine Feststellung, die Overbeck traf. „Okay, Leni. Wir treffen uns auf der Dienststelle, beim Präsidium.“
Es war warm und schwül. Margreth Kollinger, oder besser gesagt Maggie Heidfeld stand am offenen Fenster ihres dürftigen Hotelzimmers und schaute gedankenversunken über die Dächer der Stadt, in die sie die Vergangenheit geführt hatte. Hier würde sich ihr Schicksal erfüllen, so oder so. Sie wollte ihre Rache und nie waren dieser Gedanke, dieser Vorsatz so präsent gewesen wie in diesen Tagen.
Zwei der vier verhassten Menschen waren inzwischen tot. Diese Kenntnis ließ zwiespältige Gedanken in ihr aufkommen. Sie hatte ihren Tod gewollt, genauso wie sie den Tod der anderen beiden Männer wollte, denn sie hatten den Tod verdient. Sie hatten ihr das Liebste genommen, das sie auf dieser Welt gehabt hatte, dafür hatten sie den Tod verdient. Sie brauchten kein Gesetz, kein Gericht. Das Gericht war sie, Maggie. Selbst wenn einer oder gar alle eines natürlichen Todes sterben sollten, ehe sie sie fand, war es ihr Wille, ihr Wunsch, dass sie starben. Sie hatten kein Recht, auf dieser Welt zu sein. Wenn sie aber nicht auf natürliche Weise oder durch einen unglückseligen Umstand zu Tode kamen, dann würde sie zur Stelle sein. Ein Todesengel, der sie zur Hölle schickte.
Die Kirche war zum Greifen nah und Maggie dachte darüber nach, in welchem Stil sie wohl erbaut war. Kunst war nie ihr Ding gewesen. Gotik war der einzige Stil, den sie als solchen erkennen würde. Das dort … sie überlegte, das dort könnte Jugendstil sein. Warum? Sie hatte keine Begründung. Vielleicht, weil es ein moderner Bau war. Jugendstil ist doch modern, dachte sie. Oder täusche ich mich?
Sie verdrängte die Gedanken. Es war ihr egal. Als nun mit einem Mal die Glocken die Mittagszeit einzuläuten begannen, hatte sie das Gefühl, das Gotteshaus stünde unmittelbar neben ihr. Bevor sich der Schmerz in ihren Ohren verstärkte, schloss sie das Fenster. Das Geläut war nun nicht mehr so laut. Im Gegenteil, es verursachte in Maggie ein wohliges Gefühl.
Wie es wohl im Inneren dieser Kirche aussehen möge? Es war lange her, dass sie in einer Kirche gewesen war. Sie überlegte. Dann verwarf sie die Gedanken. Es war in ihrer Kindheit, als ihre Eltern noch lebten. Da war sie regelmäßig mit ihrer Mutter zur Kirche gegangen und an den freien Wochenenden begleitete sie auch ihr Vater. Er trug dann meist seine Uniform. Nicht, dass er der Welt zeigen wollte, wer er war, nein, sie glaubte heute, es waren andere Gründe, wirtschaftliche vielleicht. Sicherlich wollte er damit seine zivile Kleidung schonen, dachte sie. Oder er war ein fanatischer Uniformträger, auch das sollte es geben.
Sie fand keine Antwort und sie wunderte sich, wieso sie überhaupt solche Gedanken hegte.
Das Läuten der Glocken hatte aufgehört und Maggie öffnete das Fenster erneut. Mit den Fingern der rechten Hand fuhr sie sich durch die Haare, die sie offen trug. Auch sonst hatte sie sich der Temperatur entsprechend gekleidet. Mit ihren engen Jeans und der weißen Bluse, die sie über dem Bauchnabel mit einem Knoten zusammengebunden hatte sah sie sehr sexy aus und obwohl sie kein Makeup trug, oder gerade deswegen, kam ihre Jugendlichkeit sehr zur Geltung.
Maggie lächelte. Satorius. Wenn er sie so sehen könnte. Vielleicht hatte er sich in mich verliebt, dachte sie. Ihrer Brust entfleuchte ein Seufzer. Irgendwie tat er ihr leid. Aber sie brauchte ihn. Er war Mittel zum Zweck. Oder war er mehr? Maggie horchte in sich hinein, doch dann schüttelte sie den Kopf. Heute, am Nachmittag, wollte sie sich mit ihm treffen. Gemeinsam wollten sie die Aufenthaltsorte der beiden noch lebenden Verbrecher von damals aufspüren. Sie hoffte darauf, dass Satorius inzwischen etwas herausgefunden hatte.
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