„Sie vergessen, dass die Täter bis vor nicht allzu langer Zeit im Gefängnis gesessen haben. Wie hätte sich jemand in dieser Zeit rächen sollen. Jemanden zu einem Mord im Gefängnis veranlassen, ich glaube, solche Dinge passieren in unsrem Land nicht so einfach.“
„Was glauben Sie, Hans, wer das getan hat?“
„Fragen Sie mich lieber, wer ein Motiv hat, solches zu tun. Und da fallen mir auf Anhieb nicht viele Personen ein.“
„Ja, da es ja niemand von der betroffenen Familie von damals gibt …“
„Das stimmt nicht ganz, Meg. Das Ehepaar von damals lebt nicht mehr, das ist wohl richtig. Aber da gibt es noch eine Tochter, wie ich Ihnen bereits bei unserem ersten Treffen sagte.“
„Sie glauben doch nicht, dass diese Frau die Morde begangen hat?“, rief Maggie und es klang erstaunt und entrüstet zugleich. „Eine junge hilflose Frau?“
„Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, wo sie sich aufhält, genauso, wie wir auch die beiden noch lebenden Männer ausfindig machen müssen. Wir werden mit ihnen reden. Wir werden sie warnen, ein großes Interview führen, für unsere Leser.“
Satorius konnte seinen Eifer für die journalistische Sache kaum noch zügeln. „Sie werden sehen, falls der Täter weitere Morde vorhat, wir werden sie durch unsere Recherchen verhindern.“
Die klatschenden Geräusche waren schon zu vernehmen, als Leni durch den Flur zum Eingang des Dojo schritt. Es klang, als schlüge dort drinnen jemand abwechselnd auf ein Stück Fleisch und dann wieder gegen etwas Undefinierbares, Vibrierendes. In die Schläge mischten sich Schreie und Leni ahnte, was dort drinnen vor sich ging. Es klang nach nur einer Person und als sie die Tür zum Trainingsraum öffnete, sah sie sich bestätigt. Overbeck tanzte um einen Sandsack herum und schoss ab und zu Schläge mit der Faust oder dem Fuß ab. Dann tänzelte er zur Seite und schlug auf einen am Boden verankerten Pfahl ein, der in Schlaghöhe mit einer Art Seil umwickelt war.
Er ist tatsächlich gut, resümierte Leni, als sie Overbeck eine Zeitlang beobachtet hatte. Beruhigend zu wissen für einen Einsatz, bei dem es darauf ankommt, nicht den Kürzeren zu ziehen.
Overbeck gönnte sich eine Atempause, beugte sich im Oberkörper und stieß die Luft mehrmals scharf aus. Dann entdeckte er Leni.
„Du kommst tatsächlich?“, rief er. „Dann bist du meine erste Schülerin.“ Overbeck zeigte auf eine zweite Ausgangstür. „Dort kannst du dich umziehen. Such dir einen der Karategi aus. Sieh zu, dass er nicht zu klein ist.“
„Was soll ich?“
„Karategi, Karate-Anzug. Zieh einen über und komm her. Oder kneifst du?“
Kurze Zeit später stand Leni Overbeck gegenüber, der sie lächelnd betrachtete. „Aha, schwarzer Gürtel. Da muss ich wohl sehr aufpassen.“
„Es war nichts Anderes da“, erwiderte Leni mit grimmigem Gesicht. „Ich kann ihn aber auch ausziehen.“
„Nein, lass` mal. Wie sieht es aus? Hast du immer noch Interesse an diesem Sport?“
„Hab ich.“ Leni sah sich demonstrativ um. „Aber, sag mal, bin ich deine einzige Kundschaft?“
„Ich hoffe nicht“, lache Overbeck gequält. „Ich habe die Werbetrommel gerührt, Inserate gesetzt und Flugblätter verteilt. Die Leute müssen einfach kommen. Wovon soll ich sonst meine Miete hier bezahlen?“
„Aber es ist noch niemand hier … außer mir.“
„Du bist ja auch eine halbe Stunde vor der Zeit. Aber ich denke, dass deine Anwesenheit mir Glück bringt. Wir können ja die Zeit bis dahin überbrücken, indem ich dir einige grundsätzliche Dinge erklären werde. Einverstanden?“
„Dann sag mir doch, worauf du so wild drauflos gehämmert hast, als ich hereinkam.“
„Einen Sandsack kennst du doch sicher.“
„Nein, ich meine das Gerät dort hinten oder wie nennt man das Teil?“
„Das Teil nennt man Makiwara, ist so eine Art Sandsack, nur etwas härter.“
„Wozu soll das gut sein? Und wo ist eigentlich die Trainingspuppe?“
„Also eines nach dem anderen. Die Puppe habe ich noch nicht ausgepackt. Kann mich ja auf der Dienststelle an einer auslassen. Und was den Makiwara angeht, damit härtet man Körperstellen ab, mit denen man zuschlägt, die Handkanten, die Faustknöchel, Ellbogen, Fußballen, Fußspann …“
„Hoffentlich nicht den Kopf“, lachte Leni und sah sich in der kleinen Halle nach weiteren Trainingsmöglichkeiten um.
„Es gibt auch Kampfsportler, die härten ihre Stirn daran ab. Achte mal auf den Kopf von Jean-Claude van Damme. Suchst du etwas?“
„Eigentlich ist das doch ein ziemlich leerer Saal. Wo sind die anderen Geräte?“
„Es gibt keine, Leni. Im Training brauchen wir auch nicht den Sandsack oder den Makiwara. Beide habe ich für mich dort platziert. Kampfsport ist eine Art der Selbstverteidigung. Die wollen wir hier erlernen und praktizieren. Was gibt es Neues in unseren Mordfällen?“
„Wir haben seit drei Stunden Feierabend. Ich hoffe, dass es in dieser Zeit nichts Neues gegeben hat, es sei denn bezüglich der Aufklärung. In diesem Falle aber hätten sich die Kollegen bereits über Handy gemeldet.“
Overbeck sah zur Tür. Offensichtlich kam Bewegung in den Abend. „Da kommen die Ersten.“
Tatsächlich standen in der Tür Männer mit Sporttaschen in den Händen und schauten sich erwartungsvoll um.
„Ihr könnt euch dort umziehen“, rief Overbeck und zeigte auf die Tür, hinter der sich die Umkleiden befanden. Dann traute Leni ihren Augen kaum. Nacheinander betraten junge Männer und Frauen das Dojo und schließlich schätzte Leni die Anzahl auf über 20 Sportinteressierte.
„Ich werde dann mal die Anmeldungen entgegennehmen“, meinte Overbeck mit freudigem Gesichtsausdruck und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
„Lass mich das mal machen“, sagte Leni bestimmt. „Du kannst dich dann um dein Training kümmern. Aber mach` dir keine falschen Hoffnungen, es ist das einzige Mal. Für das nächste Training musst du dir etwas einfallen lassen.“
Der Streifenwagen schlängelte sich durch die Waldwege oberhalb der Stadt durch die Dämmerung, vorbei an der Sportanlage und in der Dämmerung konnte man erkennen, dass heute kein Training dort stattfand. Alles war ruhig und frei von Bewegungen.
Die Uhr neben dem Tachometer zeigte Viertel vor acht Uhr abends. Heribert Gehweiler schaltete die Beleuchtung ein und sah seinen Kollegen Eddy Müller von der Seite her an.
„Ruhig heute Abend“, sagte er, nur um etwas zu sagen. Die letzte Stunde hatten beide kaum gesprochen und hingen ihren Gedanken nach.
In Sichtweite tauchte vor ihnen das Haus auf, das sie seit einigen Tagen auf Trab hielt. Zwei Tote innerhalb kürzester Zeit, beide auf die gleiche grausame Art und Weise ermordet. Die Sorge, dass weitere Taten folgen, war berechtigt und die Anordnung Overbecks war deutlich: Das Objekt muss in Zukunft in die Streifenpläne integriert werden. Insbesondere am Abend und in der Nacht sollten die Observationen erfolgen, so wie heute. Und der Abend war erst angebrochen. Gleich nach dem Schichtwechsel waren sie aufgebrochen, Gehweiler und Müller. Sie würden zu dem Haus fahren, würden ihre Streife fortsetzen und nach einer Stunde wieder hier auftauchen. So würde es die ganze Nacht gehen, im Wechsel mit einer weiteren Streifenbesatzung.
Gehweiler hielt das Fahrzeug an und schaltete die Beleuchtung aus. Bis zu dem Haus waren es von hier aus nur etwa 50 Meter. Von dort aus konnte man den Streifenwagen nicht ausmachen, der Beginn des Niederwaldes verdeckte die Sicht darauf. Das Haus allerdings ließ sich aus dem Fahrzeug durch die dünnen Baumstämme hindurch einigermaßen gut beobachten.
„Verlorene Zeit.“ Müller streckte sich und gähnte. Dann sah er auf seine Armbanduhr und gähnte ein zweites Mal. „Was soll um diese Zeit schon passieren?“
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