„Sie sind nicht abergläubisch?“
Er lacht laut. „Was denken Sie! Natürlich. Da schossen mondweiße Wolken über den Himmel, jetzt in einer Stadt. Eine große Stadt, trotzdem waren die Straßen leer. Glänzendes Kopfsteinpflaster. Neonlampen schwankten trunken von einer Seite zur anderen. Es musste gerade geregnet haben, meine Brille…“ (Peter Piechowiak trägt gar keine Brille) „… war tropfenvoll. Trotzdem sah ich so gut wie nie zuvor. Ich sah einen jungen Mann in einem Hauseingang stehen, neben sich einen schwarzen Gitarrenkasten.“
„So einen wie Ihrer hier?“
Er lacht erneut. „Ja, genau so einen. Unsere Blicke trafen sich, der junge Mann öffnete den Mund und begann, mit unsicherer Stimme eine Ballade zu singen. Irgendwie ging es darin um einen Mann, der schwere Schuld auf sich geladen hatte, aber den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr. Dann geschah etwas anderes, überaus Merkwürdiges: Ein kleines Mädchen in weißer Rüschenbluse und kariertem Röckchen, ein Stoffherz, aus dem es rot tropfte, unter dem Arm, rannte an uns beiden vorüber. Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Wie seltsam, dass um diese späte Uhrzeit ein so kleines Mädchen noch allein über die Straßen läuft. Irgendwie spürte ich jedoch eine Verbundenheit zu dem Mädchen, auch, als es schon längst nicht mehr zu sehen war. Alles war so rasch gegangen, dass ich mich fragte, ob ich es wirklich gesehen hatte. Und als ich zum Hauseingang hinüberschaute, war der junge Mann mit der Gitarre nicht mehr zu sehen. Allerdings war das Gefühl zurückgeblieben, dass etwas geschehen würde, was mich, Peter Piechowiak, betraf. Und zwar etwas ganz, ganz furchtbar – Schönes. Seltsame Verbindung, nicht? Furchtbar Schönes. Vor dem Schönen fürchten wir uns.“
„Wir? Wir fürchten uns nicht vor dem Schönen.“
Er lacht jetzt laut. „Gut, Sie fürchten sich vielleicht nicht davor. Sie sind schließlich substanzlos. Aber wir Menschen, wir mit Substanz, wir fürchten uns. ‚Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.’ Kennen Sie den Satz? Allerdings …“ Zögert jetzt. „Ob das wirklich stimmt? Im Traum hatte ich trotz allem ein ganz anderes Gefühl. Dass das Schöne nämlich zugleich Freiheit und lebenslanges Gefängnis verheißt.“
Er sieht eine Weile lang zum Fenster hinaus, sagt dann: „Was ich in Wien erwarte? Vielleicht, diese Freiheit und Schönheit zu finden.“
Dann wirft er das Haar zurück und wendet sich wieder Willi Bes Kamera zu. „Vielleicht hätte ich doch nach Brasilien fahren sollen. An den Amazonas. Wenn das Geld dazu gereicht hätte. Aber wer weiß, vielleicht komme ich trotzdem eines Tages dorthin. Vielleicht nicht alleine. Komische Ideen kommen einem in so einem Zug, finden Sie nicht auch?“
Ein Wägelchen klingelt draußen durch die Gänge. „Kaffee?“ Ja doch. Zwar viel zu teuer. Aber tut gut.
„Wenn ich jetzt beginnen sollte, irgendetwas zu resümieren, müssten wir viel weiter als bis Wien fahren. Oder stimmt das etwa auch nicht? Da gab’s vor meiner Abreise noch ganz andere, völlig verschwommene Träume. Es sieht beinahe so aus, als würde in Wien tatsächlich etwas Wundersames geschehen.“
Peter Piechowiak kneift die Augen zusammen, als dächte er über etwas nach.
„Irgendwann“, so erzählt er, „irrte ich über die Straßen der Stadt – kann nicht sagen, welche Stadt. War mir nur gewiss, dass ich etwas ganz Bestimmtes suchte. Da waren Feigenbäume, die sich weit über die Gasse bogen. Und die Feigen schmeckten süßer als Honig. Aß sie nicht allein, gab sie weiter – an wen? Ich weiß es nicht. Wenn ich es nur wüsste!“
Er springt auf, denn die Bremsen kreischen, der Zug wird langsamer. Er schnappt sich seinen Rucksack und seinen schwarzen Gitarrenkasten und bereitet sich aufs Aussteigen vor.
Auf dem Bahnhof in Passau stehen so viele Reisende in Erwartung des nächsten Zuges. Jetzt wirklich der Prinz Eugen nach Wien. Peter Piechowiak mustert die Umstehenden, insbesondere eine blonde Frau im schwarzen, ärmellosen Kleid – kein Trauerkleid! –, die offensichtlich auf jemanden wartet, der im nun einfahrenden Eurocity sitzt. Peter Piechowiak spürt die Glätte ihrer ausrasierten Achselhöhlen unter seinen Fingern. Ein bisschen fühlt er sich an Tina erinnert, obwohl Tina in ihrer chaotischen Alternativität – Alternaivität, denkt er und lächelt – so etwas wie einen Lady-Shaver niemals an sich herangelassen hätte. Wieso ihm nun gerade diese Unbedeutsamkeit ein- und aufgefallen ist, kann Peter Piechowiak nicht sagen. – Wir haben ihn allerdings auch nicht danach gefragt.
Auch der Prinz Eugen gibt sich den Anschein, als könne er nicht anhalten. Auf jeden Fall verbreiten die Frau und der Mann, der ihr in die Arme fällt, so etwas wie eine sanfte Zärtlichkeit. Peter Piechowiak bedauert, sie verlassen zu müssen. Er bemerkt zu spät, dass er sich vor einem zwitschernden Walkman niedergelassen hat, ein Zwitschern, das erst der Lärm des fahrenden Zugs erstickt. Willy Bes Kamera gleitet über ermüdete Gesichter. Erschöpft von dem schier endlosen Landschaftsfilm vor dem Fenster. Obwohl gerade jetzt der schönste Abschnitt der Fahrt. Vielleicht jedoch nicht nach sechs Stunden. So handlungsarm dürfte allenfalls eine Spätvorstellung sein. Aber selbst die ist nach zwei, zweieinhalb Stunden vorüber. Nur noch wenige Bahnhöfe, auf denen die Filmrolle gewechselt wird, der Inhalt ansonsten derselbe bleibt. Peter Piechowiak zieht ein Buch – mit blauem Umschlag, den Titel können wir nicht erkennen – aus einer Seitentasche seines Rucksacks und beginnt zu lesen. Willi Be filmt ihn, wie er sich eine Haarsträhne hinters Ohr streicht.
Wir fragen ihn weiter nach seinen Albträumen.
„Sie können mich auch nicht für fünf Minuten in Ruhe lassen, oder?“ Er legt das Buch beiseite. „Zwölf Sonnen sah ich am Himmel stehen. Wahrscheinlicher jedoch waren es zwölf Monde, denn es war ziemlich kühl. Ein Himmel mit zwölf Sonnen oder Monden? Jetzt fällt es mir wieder ein: Ich wusste genau, dass es zwölf Monde waren. Und mittendrin ein Mond blutig-rot wie eine klaffende Wunde im Himmel. Und aus dieser Wunde tropfte der Tod. Das dachte ich, haargenau. Solche Träume vergisst man nicht. Der erste Mond beinahe so gleißend wie eine Sonne. Die Erde ein fahles Blau. Eine ungeheure Weite. Was mich die meinen Magen umklammernde Hand wegdrücken ließ, war die Gewissheit, dass nicht ich dort stand. Sehen Sie – sehen Sie! Ein Himmel genau wie jetzt dort draußen.“
„Wo?“
„Für einen Augenblick sah ich die zwölf Monde wieder am Himmel stehen. Entschuldigen Sie bitte, die Erinnerungen können manchmal so stark sein. Nur Bruchteile von Sekunden dauern vermutlich solche Albträume. Dehne ich sie jetzt ins Weite. Schließlich gebar der Himmel tatsächlich den Tod. Die Monde erloschen im nämlichen Augenblick. Dafür brannte weit hinter diesen Himmeln ein neues Licht. Merken Sie eigentlich, was man erzählt, wenn man Albträume erzählt?“
„Fahren Sie ruhig fort, das können wir ja gegebenenfalls schneiden.“
„Verdammt, gerade das sollen Sie nicht schneiden!“ Voller Empörung. Dann fährt er fort: „Irgendetwas war dann da mit Osten. Im Osten erhob sich nämlich jetzt der neue Tag. Eigentlich bedauerlich, dass die Sonne im Westen untergeht, nicht? So etwas denke ich nachträglich meinen Albträumen hinzu. So auch, dass einer der mittleren Monde gelegentlich verschwommen hinter einer Wolke hervorblinzelte. Beunruhigend auch die klangleere Luft – dieses ungenügende Erklären! Dafür umfloss mich – mich – jetzt etwas Weiches mit einem Duft nach Kastanie. Kann der da hinter mir nicht mal seinen Walkman abstellen? Und etwas raste kometengleich auf mich zu. Das war das Todesblau. Der Komet brannte blau. Zugleich damit, kurz, leicht säuerlicher Schweiß. Gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Wie langsam sich die Träume ins Gedächtnis zurückschieben!“
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