Berührt Peter Piechowiak die ganze Nacht über alle Stätten, die ihm hier jemals etwas bedeutet haben. Das und die Nacht scheinen nur so lang zu sein, so endlos. Streift er alles, alles mit einem entschlossenen Ruck seines Kopfes beiseite, wie das halblange blonde Haare fliegt dabei!, wird alles ohne Bedauern hier zurücklassen.
Am Bahnhof, ja, die Schalter öffnen gerade. Göttingens Bahnhof rumort. Ach, und die Uhr springt so langsam von einer Minute zur nächsten. Der Intercity Prinz Eugen erwartet. Oder die Kaiserin von Österreich? (Dabei gibt es gar keinen IC mit diesem Namen.) Pizzageruch weht uns um die Nasen. Die Fahrt nach Wien gar nicht so billig. Prinz Eugen hat schon jetzt Verspätung. Lieber den Vorzug eines Vorzugs benutzen. Zumindest bis Passau schläft’s sich dann leichter. Und anschließend? Die E-Lok sieht nicht so aus, als ob sie wüsste, was „Anhalten“ bedeutet. Zwölf Uhr. Pfiff.
Zwölf Minuten aus vierundzwanzig Stunden. Willi Be filmt, bis der Vorzug entschwunden ist.
(Da wir substanzlos sind, haben wir den Vorzug natürlich sofort eingeholt.)
Dauert die Bahnfahrt mehr als acht Stunden, und Peter Piechowiak ganz in sich selbst versunken. Hat er seine Heimat schon vergessen – war Göttingen je seine Heimat? Dabei fuhr er so gerne mit dem großen Transporter über Göttingens Straßen. – Was für eine Übersicht! Vorüber, vorüber. Zu schnell auf den Bürgersteig der Tatsachen zurückgeholt, sitzt er bis Passau allein im Abteil. Öffnet er an jedem Haltebahnhof das Fenster, lässt Lautsprecherdurchsagen zu sich ins Abteil quellen.
Das gleichmäßige Rattern entleert seinen Kopf von jedem Gedanken. Er nimmt Landschaft wahr, nicht auf, koppelt sie nicht mit Worten, hält sie nicht fest. Drängt sich am späten Nachmittag die Sonne ins Abteil, er zieht die Vorhänge vor. Die Hitze weicht nicht.
„Was erwarten Sie in Wien, Herr Piechowiak?“
Der Zug lässt sich kurz auf ein Wettrennen mit einem Auto auf der Bundesstraße ein – oder umgekehrt. Nach der nächsten Biegung gibt’s weder Sieger noch Besiegten.
„Denken Sie zum Beispiel noch an Martina, Tina, wie Sie sie nannten, der Sie Ihre Wohnung überlassen haben?“
„Ach, Tina und Klaus und Reinhard und Günther, mit „th“, darauf legt er größten Wert, trotz aller Alternativität, der mit seinem AZE, dem alternativen Kulturzentrum, wer sind denn die! Trafen uns von Zeit zu Zeit, mehr aus Gewohnheit denn aus Freundschaft. Nach zwei Wochen bin ich vergessen. Manchmal wird vielleicht einer in einer Gesprächspause daran denken, dass jemand – jemand – wie hieß er doch gleich? Ja, Peter Piechowiak mit am Tisch gesessen hat. Meist ziemlich müde, die Arbeit schlauchte doch sehr. Aber nicht das war’s, was mich von den Übrigen trennte.“
„Können Sie das näher erläutern?“
„Ja, ich kann. Das waren alles Langweiler. Vernarrt in ihre Pipi-Probleme, anödend bis zum Geht-Nicht-Mehr. Soziokultur zwischen systematisierter Innovations-Akzeleration und qualitativer Interpretations-Problematik. Meinen Sie, so etwas hätte mich interessiert?“
„Sind Sie jetzt nicht ungerecht?“
„Natürlich bin ich ungerecht. Oder kennen Sie jemanden, der gerecht wäre? Trotz allem habe ich sie ja irgendwie gemocht. War eine Abwechslung zur Ödnis, die meine Arbeit so mit sich brachte.“
„Wer oder was war denn nun öde?“
„Wie? Ach, alles. Nehmen Sie Tina, zum Beispiel. Unheimlich lieb und nett, wahnsinnig engagiert, setzte sich ein, wie es nur eben ging. Verbrachte halbe Nächte damit, diese alternative Kneipe, in der sie da arbeitete, in Schwung zu halten. Haben die sie dennoch von gleich auf jetzt an die Luft gesetzt, als es ernst wurde. Als die Studenten mit einem Male nicht mehr so viel Geld fürs abendliche Bier ausgeben konnten. Arbeitete sich daraufhin in diesem Arbeitslosenselbsthilfezentrum halb zu Tode, für nix und wieder nix. Ob ihr jemals aufgefallen ist, dass es bei jeder unangenehmen Sache hieß: ‚Das wird die Tina schon schmeißen?‘ Ja, es stimmt, dass ich sie sehr gern hatte, vielleicht sogar ein bisschen in sie verliebt war. Kann sein, dass ich nur wegen ihr freitags zum Stammtisch gegangen bin.“
„Und das können Sie so einfach alles zurücklassen?“
„Ja, das kann ich. Sonst säße ich nicht hier im Zug, hätte nicht den Vorzug eines Vorzugs ergriffen.“ Lacht kurz auf. „Gestern Abend habe ich den Vollmond über der hohen Fichte hinter meiner Wohnung gesehen.“
„Und?“
„Nichts und. Vielleicht ist dem Vollmond der merkwürdige Traum zu verdanken, den ich heute Nacht geträumt habe.“ Schließt die Augen, erinnert sich.
„Als ich heute früh erwachte, kam es mir so vor, als hätte ich im Traum eine Geschichte geschrieben – auf eine solche Idee bin ich zuvor noch nie verfallen. Genau kann ich mich an sie auch nicht mehr erinnern. Sehen Sie das kleine Mädchen dort drüben am Bahnsteig? Das mit dem Stoffherzen unter dem Arm? Merkwürdige Dinge kamen in diesem Traum vor: Ein Teich, auf dessen Oberfläche die Fichten schwere Mondschatten warfen. Ich selbst saß im Schilf und hatte Angst vor dem Wasser. Sie wissen, diese ungetrübte Angst, die man nur im Albtraum empfinden kann. Vor etwas in dem schwarzen Wasser fürchtete ich mich. Kurz zuvor war etwas ins schwarze Wasser geglitten, die Fische glotzten mich an, ruhig, bewegten sich nicht. Dann hatte sich der Vollmond durch die Zweige gedrängt und sah mich voll Spott an. Das war ein Mond, auf dem keine Astronautenspuren den Sand entehrt hatten – genauso dachte ich das im Traum. Und von Zeit zu Zeit immer wieder dieses Plätschern. Da durfte etwas nicht wiederkehren. Das Schilf schnitt mir in die Hände, ich fühlte das Blut tropfen und musste doch entlangstreifen. Denn das Blut überdeckte etwas. Nur was es war, das wusste ich nicht. Und der Mond lachte bloß dazu. Ein bisschen blöde sah er ja schon aus, wie er so im schwarzen Himmel hing. Ich wollte aufstehen und fortgehen, aber Sie wissen selbst, dass man im Traum häufig nicht fortgehen kann. Also musste ich im Schilf hocken bleiben, spürte dabei unter mir ein Rollen und Hämmern wie jetzt hier im Zug. Immer wieder der Gedanke, das ist eine Geschichte, die du aufschreiben musst. Ich war zugleich Protagonist und Beobachter. Fragen Sie nicht, wie das sein konnte. Und endlich gelang es mir, aufzustehen und fortzugehen. Das waren die schweren Bewegungen eines Traums. Einmal stürzte etwas durch die Zweige: ein Messingkronleuchter. Als ich das begriffen hatte, musste ich nicht etwa lachen – wie absurd war das schließlich – im Gegenteil: Die Angst umklammerte meinen Magen desto fester. Der Rückweg – ich wusste, es war ein Rückweg – war schwer, doch völlig lautlos. Der Boden war weich, die Zweige wichen von selbst zurück, der Mondschein drängte nahezu unverschämt zu Boden. Eine Last war mir von den Schultern genommen worden. Welche? Ein Transporter, wie ich ihn in Göttingen gefahren hatte, stand auf einem Feldweg. Keine Möglichkeit zu wenden. Dank der beiden Außenspiegel gelang es mir jedoch gut, rückwärts zur Straße zu fahren. Erst dort fiel mir auf, dass ich das Licht nicht eingeschaltet hatte. Das Mondlicht glänzte auf der nassen Fahrbahn. Hinter der Baumgruppe drüben hätte ich niemals einen Teich vermutet. Die Angst umklammerte meinen Magen nicht mehr ganz so fest. Im Wagen roch es nach Blut. Das Lenkrad fühlte sich glitschig an. Dennoch fuhr ich, so rasch es nur gehen wollte, wiederum völlig lautlos. Nur dieses Rumpeln und Hämmern wie in einem Zug.“ – Gute Aufnahmen, Willi Be. Danke!
„Haben Sie für Ihren Traum eine Erklärung?“
„Heiße ich Freud? Aber die Geschichte ist ja noch längst nicht zu Ende. Diese Nacht war eine Nacht der Albträume. Wäre ich abergläubisch: keine gute Voraussetzung, alle Brücken hinter sich abzubrechen und fortzugehen.“
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