Johanna Vocht
Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion
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Umschlagabbildung: Juan Carlos Onetti, © Suhrkamp Verlag
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 vom Fachbereich 05 – Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen und erfolgreich verteidigt.
DOI: 10.24053/9783823394259
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ISSN: 2365-3094
ISBN 978-3-8233-8425-0 (Print)
ISBN 978-3-8233-0251-3 (ePub)
1 Einleitung: Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María
In the year of '39 came a ship in from the blue
the volunteers came home that day
and they bring good news of a world so newly born
though their hearts so heavily weigh
for the earth is old and grey, little darlin' we'll away
but my love this cannot be
for so many years have gone though I'm older but a year
your mother's eyes from your eyes cry to me1
Brian May (1975)
1909 in Montevideo geboren, lebte, arbeitete und publizierte Juan Carlos Onetti bis zu seiner Exilierung 1975 wechselweise in Montevideo und Buenos Aires. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Madrid. Dort verfasste er den Großteil seines Spätwerks, erhielt 1980 den Premio Cervantes und starb 1994.2 Lange Zeit war Onetti kaum über Uruguay und den La-Plata-Raum hinaus bekannt. Allein ein eingeschworener Kreis junger Schriftsteller*innen und Intellektueller aus dem Umfeld der linksliberalen Wochenzeitschrift Marcha (deren Redaktion Onetti von 1939 bis 1941 angehörte), die auch als „generación crítica“ oder „generación del 45“ in die Literaturgeschichtsschreibung eingingen, pflegte bereits zu Beginn der 1940er Jahre einen regelrechten Kult um den späteren Cervantes-Preisträger.3 Onetti verfasste und veröffentlichte zwischen 1933 und 1993 14 Romane, zahlreiche Kurzgeschichten sowie journalistische Beiträge.
Als Schlüsselwerk gilt bis heute der 1950 erschienene Roman La vida breve . Anhand der Genese einer fiktiven Kleinstadt namens Santa María exemplifiziert Onetti in diesem Roman die Mechanismen der Autofiktionserzeugung. Sein literarisches Schaffen lässt sich damit grob in zwei Perioden unterteilen: eine ‚präsanmarianische‘ und eine ‚sanmarianische‘, d.h. in Texte vor der Erfindung Santa Marías und in solche, die ebendarin verortet sind.4 So konstatiert Roberto Ferro, dass mit Beginn der „Saga de Santa María“5 Onettis Erzählen in zunehmendem Maße selbstbezüglich werde:
Hasta la aparición de La vida breve , la narrativa de Onetti remite a una constelación de escrituras que cita y reescribe, entre las que se inscriben de modo paradigmático, aunque no excluyente, las de Céline, Faulkner, Arlt, Joyce y la novela de aventuras: ese gesto se registra como un movimiento de apertura. A partir de La vida breve , la instancia citacional se hace endógena, las repeticiones autorreferenciales comienzan a constituirse en uno de los rasgos distintivos de su escritura, que exhibe la marca de un porvenir inscripto en la repetición.6
Ferro zeichnet damit die Veränderung des Gesamtwerks von einem stark intertextuell zu einem stark intra textuell geprägten Erzählwerk nach.7 Das heißt, die narrativen Referenzen beschreiben eine räumliche Bewegung: von einem ‚textlichen Außen‘ in den frühen Werken zu einem ‚textlichen Innen‘ in den sanmarianischen Erzählungen. Einzelne, überwiegend männliche Figuren sind sich ihres Fiktionalitätscharakters bewusst und reflektieren diesen auch aktiv.8 Ein poetologischer Effekt dieser starken Autoreferentialität besteht darin, dass die einzelnen Texte zum Teil erst innerhalb des Gesamtkontextes verständlich werden. Ferro plädiert in seiner Studie daher auch für eine Lesart, die Onettis literarisches Gesamtwerk als „único texto“9 fasst. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Vorschlag, indem sie das ausgewählte Korpus als Teil des Gesamtwerks liest und immer wieder dazu in Beziehung setzt.
Das zu untersuchende Textkorpus umfasst die Romane La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), La muerte y la niña (1973) und Dejemos hablar al viento (1979) sowie die Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968). Allen genannten Texten ist gemein, dass sie sich in zahlreichen Anspielungen auf La vida breve (1950) als ‚Gründungstext‘ beziehen und überwiegend in dem darin erdachten Santa María verortet sind. Entscheidungsleitend bei der Auswahl der einzelnen Romane sowie der Kurzgeschichte waren die unterschiedlichen Darstellungen von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion respektive deren Negationen. Diese wiederum stehen, so die Grundannahme der vorliegenden Arbeit, stets in komplexen reziproken Abhängigkeitsverhältnissen zu den Parametern Raum, Macht und Gender, welche in diesem Rahmen analysiert werden sollen.
Die Hypothese basiert auf folgenden Vorüberlegungen: Mit Santa María wählt Onetti einen in Lateinamerika weit verbreiteten Städtenamen, der sich, wie Jorge Edwards exemplarisch für die bisherige Onetti-Forschung formuliert, auf eine fiktive, prototypische lateinamerikanische Provinzstadt bezieht:10
Es una ciudad provinciana, un espacio cerrado, ocupado por unos cuantos personajes novelescos, y es, en seguida, un mundo novelesco que se encuentra en las cercanías de lugares tan reales como Buenos Aires y Montevideo. […] Es la metáfora de cualquier ciudad de América del Sur, con su carácter provinciano, con su cercanía de algún puerto, con sus barrios de inmigrantes.11
Während die Forschung sich bis dato also vor allem auf Santa María als Teil einer bekannten lateinamerikanischen Geographie bezogen hat, soll in vorliegender Arbeit noch ein weiterer terminologischer Aspekt für die Analyse fruchtbar gemacht werden: So rekurriert der Name Santa María in der christlichen Tradition auf die heilige Maria, die Muttergottes, die Gebärerin des christlichen Heilands; evoziert wird damit werkübergreifend die Figur der Mutter als traditionelles Symbol des Lebens, der Geburt und der Schöpfung. Allerdings spielen auf diegetischer Ebene Mutterfiguren nur eine sehr marginale Rolle. In weiterem starkem Kontrast zu dem christlichen Marienmythos steht, dass Fortpflanzung und Elternschaft in Onettis Texten entweder offen problematisiert oder von den Figuren verweigert werden und damit als grundsätzlich dysfunktional und/oder konfliktbehaftet markiert sind. In Onettis Texten wird, so eine weitere Lektürebeobachtung, (biologische) Reproduktion vielmehr durch kinderlose Frauenfiguren, die gleichzeitig mit Attributionen von Mütterlichkeit versehen werden, repräsentiert. Jegliche Art der Genealogie auf diegetischer Ebene erscheint damit unmöglich. Über all dem ‚schwebt‘ eine männliche Schöpferfigur, deren Erzählpotenz sich auf unterschiedliche männliche Erzählinstanzen aufteilt.
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