Ferro verwehrt sich in seiner Analyse gegen eine Lesart, die Onettis Texte als schematische Wiederholungen einer einzigen Geschichte begreift, die allein in der Fokussierung spezifischer Motive wie Scheitern, Drogen, Prostitution etc. variieren. Auf Ferros stattdessen vorgeschlagene Lesart, die Gesamtheit der Onetti’schen Romane und Kurzgeschichten als ein einziges, zusammenhängendes Textkonglomerat zu fassen, wurde bereits auf den ersten Seiten dieser Arbeit verwiesen. Dass an dieser Stelle noch einmal explizit Ferros ‚Ein-Text-Postulat‘ aufgerufen wird, soll die Relevanz dieser philologischen Perspektive für diese Arbeit, verbunden auch mit einer Abgrenzung zum bis dato dominierenden Forschungsdiskurs verdeutlichen. So wird Santa María erst durch Ferros Zugang als metafiktionale Raumfigur in Abhängigkeit zum rioplatensischen Metropolenbild präsanmarianischer Texte lesbar. Anders formuliert heißt das, Santa María wird im Text zuverlässig durch direkte Anspielungen auf Buenos Aires und Montevideo oder (im Laufe des Spätwerks indirekter werdende) Referentialisierung auf eine unbenannte Kapitale konstruiert. Bei der Untersuchung des Textraums Santa María ist es demnach hilfreich, sich auch mit der diskursiven Darstellung der Metropolen Buenos Aires und Montevideo in La vida breve (1950) vorgängigen Texten auseinanderzusetzen. Denn obschon sich das gewählte Textkorpus auf Santa María-Texte beschränkt, bleibt die lateinamerikanische Metropole (exemplarisch dargestellt an Montevideo und Buenos Aires) über weite Strecken ein wichtiger Referenzpunkt für die Konstruktion des imaginären Santa María. Sprich: Das Großstadtbild, das die frühen Texte Onettis vermitteln, ist für diese Arbeit insofern von entscheidender Bedeutung, als die Erfindung Santa Marías sowohl auf diskursiver als auch auf diegetischer Ebene auf den Großstadt-Darstellungen vorangegangener Erzählungen aufbaut.60 So wird in La vida breve (1950) selbst die großstädtische Unübersichtlichkeit und Anonymität und damit einhergehend das Gefühl der Entfremdung, unter dem der fiktive Autor Brausen leidet, und das ihn letzten Endes auch zur Erfindung eines metafiktiven Gegenortes inspiriert, nur marginal oder wie Millington konstatiert, vermittels narrativer Leerstellen dargestellt.61 Diskursiv handelt es sich um räumliche Spiegelungen, welche Santa María als idyllischen Gegenort zu Buenos Aires/Montevideo konstruieren, inhaltlich um die Abkehr des Protagonisten von den Zumutungen der Großstadt und einer damit verbunden Flucht in eine vermeintliche Kleinstadtidylle.
Die mimetisch-dystopische Metropolendarstellung in Onettis frühen Romanen und Kurzgeschichten wird in der Forschung oft mit dem Werk Roberto Arlts, dem Pionier des rioplatensischen Stadtromans, verglichen. Das ‚literarische Erbe‘, das Onetti von Arlt übernimmt, besteht demnach vornehmlich in der negativ konnotierten Darstellung der Großstadt als Ort der Feindseligkeit und Selbstentfremdung des modernen Individuums.62 In seiner Romantrilogie El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) entwirft Arlt die Großstadt (Buenos Aires) als Strudel, wie Rosalba Campra mit Bezug auf ein eigentlich konträres Konstrukt feststellt. So bezog sich dieser Begriff ursprünglich auf den Urwald als die alles verschlingende, zivilisationsfreie Hölle in Eustachio Riveras gleichnamigem Roman La vorágine (1924). Den Gegensatz dazu bildete die zivilisierte Stadt. Nach Campra erhält bei Arlt jedoch genau die ehemals zivilisierte, beherrschbare Stadt die menschenvernichtenden Züge des unkontrollierbaren Urwalds:
La ciudad ya se ha transformado en una vorágine. Los críticos han insistido suficientemente en el papel de Roberto Arlt respecto a la creación de esta imagen de una Buenos Aires sombría. En El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929), Los lanzallamas (1931), Arlt muestra cómo la ciudad forma, o más bien deforma a los personajes en su cuerpo y en su alma, obligándolos a actuar como seres despiadados y corruptos para poder sobrevivir. El espacio en que se mueven, coherentemente, es mezquino y oscuro: zaguanes, escaleras de caracol, sórdidas piezas amuebladas en las que estas criaturas resentidas rumian su venganza contra el mundo.63
Die Großstadt wird bei Arlt damit zum düsteren ( mezquino y oscuro ) Dschungel, der die Menschen zwar nicht mehr ‚verschlingt‘ (wie der Dschungel die Protagonisten Arturo und Alicia in La vorágine ), jedoch in ihrem täglichen Überlebenskampf moralisch deformiert und korrumpiert (wie etwa Silvio Astier, den Protagonisten von El juguete rabioso (1926), der im Laufe seiner éducation sentimentale zum Verbrecher und Verräter an seinem Freund wird, wie Juan Villoro schreibt)64. Die Feindseligkeit der Großstadt geht dabei in den Körper der Figuren über und deformiert deren Psyche.65 Letzteres mündet in einen schmutzigen, trotzigen Überlebenskampf der einzelnen Individuen. Die entsprechende Kulisse dafür bilden dunkle Flure, Wendeltreppen oder schäbige Pensionszimmer.
In Recorridos urbanos (2009) gelangt Christina Komi zu einem ähnlichen Schluss. Sie vergleicht die medial vermittelte Repräsentation der Großstadt Buenos Aires in Arlts Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) mit der Onettis in El pozo (1939), Tierra de nadie (1941) sowie einigen frühen Kurzgeschichten. Das Bild der Stadt, das Komi in ihrer Monographie herausarbeitet, setzt sich daraus zusammen, was die Stadt einerseits an Bedeutungen generiert und wodurch sie andererseits selbst geprägt und verändert wird. Dabei bezieht sich Komi auf das Konzept der analogen Stadt des italienischen Architekten Aldo Rossi.66 Die Idee, die hinter Rossis Überlegungen stand, war, modernen Städtebau nicht nur an infrastrukturellen und ökonomischen Funktionen auszurichten, sondern kulturelle Analogien und Verweise zwischen Architektur und Stadt herauszuarbeiten, um dementsprechend zukunftsweisend zu bauen. Komi transferiert diese originär urbanistische Betrachtungsweise für ihre Studie in die Literaturwissenschaft:
La expresión señala el punto de encuentro entre los componentes materiales del espacio, la memoria y los elementos imaginativos que forjan, también a su manera, este espacio.67
El lenguaje de la ficción percibe, representa e inventa la ciudad y sus lenguajes.68
Sie beschreibt zunächst die Besonderheiten, die das Buenos Aires (bzw. die rioplatensische Großstadt) der Zwischenkriegsjahre von europäischen Metropolen wie Paris oder London unterscheiden. Da ist einerseits die immense Zahl an europäischen Migranten zu nennen, die Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zwei mehr oder weniger parallel existierende Gesellschaften (die Norm-Gesellschaft sowie die davon abgespaltene randständige Gesellschaft der Einwanderer) teilt und andererseits die relative historische Unbeschriebenheit der rioplatensischen Gesellschaft („un tipo de tabula rasa “69). Die industrialisierungsbedingte Verstädterung tut ihr übriges, um die rioplatensische Großstadt der Zwischenkriegsjahre zu dem zu machen, was Komi als reale Vorlage für deren literarischen Repräsentationen bei Arlt und Onetti beschreibt:
La Buenos Aires de los años veinte surge como una ciudad de cemento que crece y se extiende a un ritmo desenfrenado, amenazando no sólo las tradiciones locales sino, más profundamente, la integridad psicológica del individuo que transforma de repente en hombre de masas dentro de una ciudad masificada, en una fracción de la sociedad o en pieza de máquina.70
Der rapide Anstieg der urbanen Bevölkerung sowie die zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung des städtischen Lebens befeuern die Entfremdung des Individuums, wie Komi fortfährt. Das ungebremste physische Wachstum der Stadt bedroht laut Komi nicht nur die ursprünglichen Traditionen, sondern vor allem auch die menschliche Psyche. So leidet das moderne Individuum sowohl in den Texten Arlts als auch in denen Onettis unter gesellschaftlicher Randständigkeit und Vereinsamung. Weiter verhandelt wird der Gegensatz zwischen einem Leben in Gesellschaft (Stadt) und einem Leben in Gemeinschaft (Peripherie, Land). Traum, Exzess und Gewalt sind laut Komi Strategien der städtischen Individuen, um den alltäglichen Entbehrungen und Feindseligkeit der Großstadt zu entfliehen bzw. um sich ihnen entgegenzustellen:
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