Frauenfiguren fungieren in Onettis Texten demnach exklusiv als indirekt handlungsauslösende Momente, indem sie die männlichen Figuren dazu anregen, ihre Situation zu ändern, sprich: sich zu bewegen ( movement )48. Frauen sind nach Millington die statischen, aber gleichwohl impulsgebenden Elemente der Erzählung, während Männer aktiv die Handlung gestalten.
Während Millington die männliche Dominanz innerhalb der dargestellten Räume bei Onetti zwar konstatiert, aber deren räumliche Parameter nicht weiter analysiert, stellt Martínez sie in den Fokus ihrer Untersuchung. In ihren Ausführungen arbeitet sie heraus, dass die Handlungsorte in Onettis Erzählwerk überwiegend männlich homosozial geprägt sind und diese omnipräsente Prägung wiederum bestimmte genderabhängige Machtverhältnisse prägt:
La narrativa de Juan Carlos Onetti, desde El pozo (1939) hasta Cuando ya no importe (1993), articula y reproduce un espacio homosocial por excelencia. Por homosocial se entiende aquí el lugar privilegiado en que los personajes masculinos como sujetos del discurso, llevan a cabo entre ellos transacciones de poder social, económico, y narrativo; mientras que los sujetos femeninos aparecen como objetos de cambio, intercambio o en palabras de Luce Irigaray, como ‚mercancía‘.49
Unter homosozialen Räumen versteht Martínez solche, die durch einen hegemonial männlichen Diskurs geprägt sind – sei es in sozialem, wirtschaftlichem oder narrativem Sinne. Frauen fungieren dabei als Tauschobjekte oder Waren. Homosoziale Räume reproduzieren, wie Martínez weiter ausführt, die Subjekt-Objekt-Relation zwischen Männern und Frauen. In ihnen dominieren Rivalitäten und Komplizenschaften zwischen Männern, Frauen dienen dagegen allein als Sache, über die gesprochen wird.50 Wie Millington arbeitet auch Martínez ‚die Frau‘ allein in ihrer Objekt-Funktion in Bezug auf die Aushandlung männlicher Selbstfindungsproblematiken heraus. Im Zentrum ihrer Analyse steht daher auch kaum die Frage nach heterosozialen Interaktionen, sondern vielmehr die nach homosozialen Beziehungen und insbesondere nach homoerotischer Anziehung zwischen Männern.
Für die vorliegende Arbeit ist dieser Aufsatz jedoch insofern von großem Interesse, als Martínez die männliche Dominanz durch das Konzept des homosozialen Raumes nicht nur diskursiv, sondern auch auf der Ebene der histoire , in physischen Räumen innerhalb der Erzählungen verortet. Sie zeigt auf, in welchem Umfang Frauen in Onettis Texten bereits dadurch, dass sich Handlung überwiegend in homosozial geprägten Settings (wie etwa Bar oder Nachtclub) vollzieht, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. An Martínez anschließend, stellt sich für die Textanalyse in Kapitel 5 dieser Arbeit die Frage: Welche Räume bleiben den Frauen in Onettis Texten überhaupt, um aktiv zu handeln – zumal innerhalb eines Diskursraums, der durch den männlich-konstituierenden Blick der fiktiven Autorfigur Brausen erschaffen wurde und der kontinuierlich von männlichen Stimmen weitererzählt wird?51
Während Ludmer, Maloof, Martínez und Millington in ihren Untersuchungen die diskursive Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen betonen, dekonstruieren Christopher F. Laferl, Roberto Echavarren, Sonia Mattalia und Teresa Porzecanski diese männliche Suprematie in ihren genderkritischen und queeren Interpretationsansätzen. Echavarren nimmt in seinem Aufsatz „Andrógino Onetti“ (2007) die Unbestimmtheit und Brüchigkeit von Geschlechterkonstruktionen bei Onetti in den Blick.52 Laferl untersucht in seinem Beitrag „Männer interessieren sich für Männer” (2019) die Körperlichkeit und homoerotische Anziehungskraft dreier peripherer Männerfiguren, d.h. er betrachtet homosoziale Subjekt-Objekt-Abhängigkeiten: Erstens die zwischen dem jungen Protagonisten Bob und dem namenlosen männlichen Erzähler in der Kurzgeschichte „Bienvenido, Bob“ (1944), zweitens die zwischen dem schwerkranken ehemaligen Spitzensportler und dem Besitzer des Krämerladens in Los adioses (1954) und drittens die Abhängigkeit zwischen dem abgehalfterten Ringer Jacob van Oppen und seinem Manager Orsini in Jacob y el otro (1959). Laferl gelangt zu dem Schluss, dass Onetti in seinen Texten Konzepte hegemonialer Männlichkeit durch eine „Erosion von Männlichkeit“ dezentriert und damit patriarchale Strukturen dekonstruiert.53
Eine explizit feministische Perspektive nimmt Sonia Mattalia in ihrer Monographie Una ética de la angustia (2012) ein. Ihre Studie bildet damit für die vorliegende Arbeit einen wichtigen Anknüpfungspunkt in Bezug auf die Analyse weiblicher Handlungsmacht in Onettis Texten. Allerdings behandelt Mattalia drei Kurzgeschichten, die keine Verknüpfung zu Santa María aufweisen und wählt einen tiefenpsychologischen Interpretationsansatz: Ausgehend von der Freud‘schen Kernfrage „qué quiere la mujer“54, fokussiert sie weibliches Begehren und dessen explizite Artikulation durch aktive Frauenfiguren, wie etwa die namenlose Protagonistin der Kurzgeschichte „Un sueño realizado“ (1941), Gracia in „El infierno tan temido“ (1957) oder Kirsten in „Esbjerg en la costa“ (1946). In Mattalias tiefenpsychologischer Lesart ruft das artikulierte weibliche Begehren auf Seiten der männlichen Protagonisten Langman („Un sueño realizado“, 1941) und Risso („El infierno tan temido“, 1957) Unverständnis und Unsicherheit hervor. Während die besagten Protagonisten ohnmächtige Statisten bleiben, handeln die aktiven Frauenfiguren frei und selbstbestimmt. Die männlichen Figuren agieren in dieser Lesart passiv oder werden, wie Teresa Porzecanski auch mit Rückgriff auf Jean-Paul Sartre formuliert, zu einem „proyecto en construcción“55. Am Beispiel Baldis, des Protagonisten der gleichnamigen Kurzgeschichte „El posible Baldi“ (1936), arbeitet Porzecanski eine ‚tragische‘, da von unlösbarer Konfliktivität behaftete Männlichkeit in Onettis Texten heraus. Die größte Problematik der männlichen Identitätssuche liegt laut Porzecanski darin, dass ‚der Mann‘ vom Sartre‘schen Diktum, zur Freiheit und damit zur ständigen (Neu)erfindung seiner selbst verdammt zu sein, innerlich zerrissen wird und letztlich in einer unauflösbaren Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung verharrt. Porzecanski folgt in ihrer Untersuchung der essentialistischen Argumentationslinie der französischen Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter. In ihrer Monographie Die Identität des Mannes (1997 [1992 franz.]) stellt Badinter Männlichkeit56 im 20. Jahrhundert als konfliktives und in letzter Konsequenz defizitäres Konstrukt dar. In Porzecanskis Lesart sind Baldis Identitätsentwürfe demnach grundsätzlich an die affektive Empathie ‚der Frau‘ gebunden.57
Die bislang umfassendste Werkstudie zu Onetti, La fundación imaginada (2011) stammt jedoch von Ferro, auf dessen Ansatz, Onettis gesamtes Erzählwerk als único texto zu lesen, bereits eingegangen wurde. Mit seiner strukturalistischen Interpretation im Anschluss an die Arbeiten von Ludmer (2009 [1977]), Millington (1985), und Martínez (1992) schreibt Ferro damit dezidiert gegen einen Forschungsdiskurs an, der das Düstere und Nihilistische in Onettis Werk als dessen entscheidende Merkmale herausstellte, es vorrangig existentialistisch las, und verwehrt sich damit auch gegen den oft gestellten Anspruch, einen stringenten, linearen Sinnzusammenhang zwischen Onettis Texten herzustellen.58 Stattdessen plädiert Ferro für eine offene, Fragmentarität und Brüche zulassende (wenn nicht gar kalkulierende) Lektüre:
Considero necesario, en este punto, hacer explícita una toma de distancia con cierta dirección de la crítica, bastante extendida y hasta institucionalizada, que lee la trama de las remisiones intertextuales como una garantía de la certeza de que la obra onettiana estaría construida bajo el signo del deterioro, que Onetti, con una tenacidad casi abusiva, reescribiría insistentemente la misma historia con algunas variaciones: fracaso, vidas desgraciadas, droga, prostitución, miseria moral.59
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