Die Jacobi-Kirchturmuhr schlägt die volle Stunde. Die akademische Buchhandlung nebenan zieht sich aus dem nach wie vor brodelnden Trubel vornehm akademisch zurück und schließt ihre Glastüre. Wahrscheinlich stehen die Studenten in der Mensa mittlerweile Schlange. (Aber auch das zu erzählen ist nicht unsere Aufgabe.) Wir heften uns weiterhin an Peter Piechowiaks abgelatschte Turnschuhfersen. Wenn Willi Be gehofft hat, dass er ein gewisses Interesse an den Pornos im Royal zeigen würde, so sieht er sich getäuscht. Er hätte Peter Piechowiak liebend gern dort beobachtet, wie er sich einen runterholt, während auf der Leinwand Bumsfrauen vor sich hin stöhnen, Muskelpakete hinter ihrem Arsch – alles natürlich nur zu Reportagezwecken.
Stattdessen: Stehenbleiben vor dem Schaufenster eines Reisebüros. Von einem Plakat strömt uns der Amazonas entgegen. Traumreise nach Brasilien. Dorthin fahren, so sagt Peter Piechowiak zu uns, vielleicht sogar dort leben, das könnte ein Traum sein. Vielleicht. Er habe sogar einmal angefangen, auf eine solche Zukunft zu sparen. Bevor er sich überlegt habe, dass das naturgemäß kompletter Blödsinn sein müsse. Denn Peter Piechowiak hat niemals Portugiesisch gelernt, erst recht kein brasilianisches.
Trotzdem: In den Ufersümpfen müsse noch ein Geheimnis stecken. Zwischen den mächtigen Urwaldstämmen, zwischen den buntschillernden Schmetterlingen, die nirgends so groß und bunt seien wie dort. O-Ton: „Brasilien steht, glaube ich manchmal, für meine Sehnsucht, einmal etwas völlig Verrücktes zu tun. Etwas Wahnsinniges. Halt etwas, von dem alle Menschen sagen: ‚Das ist doch Wahnsinn.‘ Genau dann wüsste ich, dass ich das Richtige täte. Andere investieren riesige Summe in Erste-Klasse-Intercity-Fahrten mit Essen im Speisewagen, inklusive überteuerter Rotweine. Darauf habe ich wirklich nie viel gegeben.“ Lacht leise. „Worin investiere ich? In Zukunft, trotz AIDS, Atombomben und …“
Allem, was sonst noch kommen wird.
Währenddessen weiterhin auf der Weender Straße. Der entkommt in Göttingen niemand. Willy Bes Kamera schleicht über die Gesichter etlicher Passanten. Frohe, gehetzte, traurige, glückliche, nichtssagende Gesichter sind es, die Willy Be da auffängt und verewigt. Können sie uns immer wieder ansehen.
„Ein Glück“, sagt jetzt Peter Piechowiak, „dass schönes Wetter ist. Wissen Sie, in meiner engen Bude hält mich nichts. Der Nachbar schlägt den ganzen Tag und die halbe Nacht lang Krach – Sie werden’s kaum glauben, aber selbst ich habe schon mal die Polizei gerufen –, und auf Dauer in irgendeinem Café oder einer Kneipe sitzen macht auch keinen Spaß. Ist zudem zu teuer. Meine noch vorhanden Bekannten sind alle bejobt, familiert, bekindert. Eigentlich bin ich niemand, der gern allein lebt, müssen Sie wissen. Vieles in mir liegt zu offen, schreit bei jeder Berührung von außen, müsste abgedeckt werden durch ein Gegenüber. Aber ich bin durchaus leidensfähig. Und lebensfähig. Und hoffnungsfähig.“
Was tut man, wenn man ziellos über oder durch Straßen treibt? Eben genau dies, nichts anderes.
„Was ich so denke? Merkwürdig – indem Sie mich das fragen, weiß ich’s nicht mehr. Wenn ich Ihnen jetzt etwas sage, dann deshalb, weil Sie mich gefragt haben. Zum Beispiel, dass mir die Sonne warm aufs Gesicht scheint oder dass manchmal Touristen da vorne vor dem alten Fachwerkhaus stehenbleiben, genau, das mit dem scheußlichen Laden unten drin, und dann erst fällt mir auf, dass das Haus ansonsten schön ist.“
Willy Be richtet seine Kamera auf dieses Haus.
„Das ist jedoch alles nur schöner Schein, denn genau wie die meisten der Touristen weiß auch ich nichts über dieses Haus. Ob es zum Beispiel nur noch Fassade ist. Wer darin wohnt. Ob überhaupt noch jemand darin wohnt. Ob da nicht nur noch Büros drin sind.“ Er geht weiter, und wir, wir folgen ihm. „Wahre Schönheit kommt von innen, nicht?“ Er bleibt stehen und dreht sich zu uns um. „Einen dümmeren Satz kenne ich nicht.“ Er geht weiter, und beim Gehen spricht er zu uns. „Ich träume manchmal von einem Mädchen, einer jungen Frau, die ich irgendwann irgendwo, nein, nicht hier in Göttingen, kennenlernen werde, mit der ich eine Tochter haben werde, obwohl ich mir im Augenblick kaum vorstellen kann, Vater zu sein. Ihre Zuschauer werden sich vermutlich wundern, dass ich nicht wesentlich mehr über meine momentane Lage nachdenke, nicht darüber nachdenke, wie ich sie wohl ändern könnte. Vermutlich erwarten Ihre Zuschauer sogar Patentrezepte. Oder wollen sich einfühlen, das heißt, sie wollen sich in mir entdecken. Ob das möglich sein kann? Hoffentlich haben Sie sich nicht das falsche Demonstrationsobjekt ausgesucht.“
Er lacht, und Willi Be fängt das Lachen auf. Darin ist er sehr gut.
Die Wissenschaft ist der größte Betrug am Menschen!, knallt uns ein Schild in die Augen, das ein Mann vor der akademischen Buchhandlung in die Höhe hält, inmitten einer Wolke aus Neugier, Spott, Interesse, Bewunderung, Gleichgültigkeit.
„Das könnte etwas für mich sein“, sagt Peter Piechowiak. Er stellt sich neben eine Edelpunkerin mit lila Haarsträhne über den wirren Augen, Haare bis weit über die Ohren abrasiert. An der Leine einen struppigen Hund, der dem Mann mit dem Schild beinahe ans Bein gepinkelt hätte.
Auch das hat Willi Be bereits im Kasten.
Die Edelpunkerin beäugt uns misstrauisch, zerrt ihren Hund beiseite und verschwindet in Richtung Rathaus und Gänseliesl, wo sie sich vermutlich mit ihresgleichen treffen wird. Schwarze, durchlöcherte Strumpfhose, schwarzer Pullover, unter dem die vorschriftsmäßig lange rosa Bluse hervorschaut. Die Einkaufstaschen der Hausfrauen sehen ihr empört nach. (Zumindest sieht das auf den Aufnahmen, die Willi Be von dieser Begebenheit gemacht hat, so aus.)
Als sich auch nach einer Weile nichts weiter tut, macht Peter Piechowiak sich wieder auf den unbestimmten Weg. Er kommt an einer Litfaßsäule vorüber, bleibt stehen, sieht sich die Plakate an, zeigt auf eines und sagt: „Sehen Sie, da gehe ich heute Abend hin.“ Es ist ein handgefertigtes Plakat, die Ankündigung einer Lesung. „21 Uhr, Galerie Apex“, steht da. „Walter Traunstein stellt vor. Heute: Leo Perutz.“
Schon hat Willi Be auch dieses Plakat im Kasten, und ich möchte natürlich wissen, weswegen Peter Piechowiak unbedingt dorthin will.
„Hat das etwas mit Ihrer Arbeitslosigkeit zu tun?“
Sieht er mich verständnislos an. „Sagen Sie, was ist Ihnen eigentlich wichtiger: Peter Piechowiak, der Arbeitslose, oder Peter Piechowiak, der Mensch? Mich auf die Arbeitslosigkeit zu verengen – das empfinde ich beinahe als Beleidigung.“
„Aber darum sollte es doch in diesem Bericht gehen.“
„Naundwennschon!“, faucht Peter Piechowiak.
„Was meinen Sie damit?“
„Was ich damit meine? Ich will nicht bemitleidet werden. Ich will nicht benutzt werden von Leuten, denen gar nichts Besseres geschehen kann, als dass es so viele Arbeitslose gibt. Ich will nicht betreut werden. Für mich, für mich allein weitergehen, wie ich es möchte, das ist für mich der Weg.“
Inzwischen sind wir zur Leine hinüber und gehen einen schmalen Weg entlang. Vor Willi Bes Kameraaugen biegt sich das Gebüsch nur unwillig beiseite.
„Aber selbst das dient ja wieder nur Ihrer Sucht zum Klassifizieren. Am Ende lasse ich mich auf nichts einengen, auf überhaupt nichts. Noch nicht einmal auf Peter Piechowiak!“
Oh, wie zornig er geworden ist! So zornig, dass er eine Handvoll Grashalme ausreißt und in die Luft wirbelt. Träge sinken sie auf das Objektiv der Kamera, und jetzt ist es Willi Be, der zornig wird.
„Ei, sag dem Armleuchter, er soll solche Späße gefälligst sein lassen.“
Noch ein wenig, und es wäre zu einer Schlägerei gekommen.
Gerade noch verhindert hat es ein kleines Mädchen mit einer Rüschenbluse, einem blau-weiß karierten Rock, das ein Stoffherz unterm Arm hält. Peter Piechowiak sieht dem Mädchen lange nach, genau wie wir, und Willi Bes Kamera, vom Grase befreit, hört erst auf zu surren, als das Mädchen schon längst hinter den Büschen verschwunden ist.
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