Herrjeh. Auch für ihren Körper musste sie mehr tun als bislang. Hierbei war es nebensächlich, dass sie im Grunde genommen Sport hasste. Ihre Haut musste straff sitzen. Schließlich gab es noch junggebliebene Klienten; Männer, die auf 18-Loch-Golfanlagen zuhause waren; Männer, die eine Fitness-Anlage neben ihrem Schwimmbad installieren ließen; Männer, die sich aufgestauten Frust aus dem Leib vögeln lassen wollten. Da durfte sie nicht schlappmachen.
Ihre neue Sedcard mit aussagefähigen Aufnahmen von Sven unterschied sich gravierend von ihrem ehemaligen Auftritt. „Madame Chantal“ selbst hatte die Texte kreiert – und ihre Seele mit einfließen lassen. Über Geld wollte sie später nicht mehr sprechen. Niveau hatte seinen Preis.
Der Geschäftsführer von „Rendezvous“ entschuldigte sich bei „Madame Chantal“ gerne. Die Anfragen übertrafen jegliches Vorstellungsvermögen. Mehr denn je oblag es „Madame Chantal“ ihre Wahl zu treffen und Termine zu vereinbaren.
Ihre neue Freiheit begann mit einem äußerst ungewöhnlichen Ereignis. Die volle Tragweite sollte sich erst viele Jahre später erweisen.
Wie in all den Jahren zuvor hatte sich Chantal auf ihren nächsten Kunden informell und mental vorbereitet. Bereits als sie sich in das Portrait des Harald Lambers zu vertiefen versuchte, schrie eine Stimme in ihr:
»Dieses Treffen darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen!«
Das volle Haar und der gepflegte Vollbart dieses Mannes waren bereits grau meliert. Trotzdem wirkte der vierundfünfzigjährige Inhaber eines Chemie-Unternehmens jung und agil. Chantal konzentrierte sich auf seine Augen mit den buschigen Augenbrauen darüber. Diese Augen blickten energisch und anpackend in die Welt. Doch sie sah darin auch eine leichte Traurigkeit und Verletzlichkeit.
Seven und der Privat-Detektiv hatten ganze Arbeit geleistet. Aus fünfzehn Seiten ging hervor, dass dieser Mann eine äußerst bizarre Kindheit hatte. Sein Vater war einer jener Arbeitstiere nach dem Zweiten Weltkrieg; fordernd und unnachsichtig. Die Mutter liebte Kultur und Musik. Sie achtete auf die notwendige Ruhe und Harmonie in der Familie. Der Nachkriegspionier starb früh, und Harald wurde ins kalte Wasser geschleudert.
Umsatz und Gewinn von HARLAM-CHEM explodierten in den letzten fünfzehn Jahren. Die zehn Jahre jüngere Frau Isolde kam aus begütertem Hause. Vor zwei Jahren zog sie mit dem gemeinsamen Sohn Edward, er war bereits vierundzwanzig Jahre alt, aus der großen Villa im Frankfurter Nordend aus. Sie war in den letzten Jahren vollauf damit beschäftigt gewesen, ihre Erbschaft, die Eltern waren beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen, mit vielen Männerbekanntschaften in vollen Zügen zu genießen. Harald ersäufte seine Enttäuschung in Arbeit. Frauenbekanntschaften tauchten in seinem Leben fortan nicht mehr auf; zumindest waren diese nicht in Erfahrung zu bringen gewesen. Harald Lambers galt als äußerst durchsetzungsfähig, spielte Golf und liebte Musik; vornehmlich klassische Musik.
Sie trafen sich in einem großen und altehrwürdigen Hotel in Würzburg; unweit der Marienburg und mit Blick über die Weinberge hinunter zum Main.
Chantal erkannte ihn von Weitem.
Mit einem »Einen schönen Tag Herr Lambers«, ging sie lächelnd auf ihn zu, und hauchte dem erwartungsvoll dreinblickenden Mann ein zartes Küsschen auf beide Wangen.
Fast theatralisch wich er zwei Meter zurück. Mit betont beeindruckter Miene musterte er das vor ihm stehende Wesen. Er ließ sich Zeit; viel Zeit.
»Es gefällt mir, was ich sehe. In Natura sind sie noch weitaus schöner als auf dem Foto«, sagte er mit einer warmen Stimme, die ganz und gar nicht zu einem Manager passte.
»So direkt hat mir das bislang noch kein Mann gesagt«, flötete Chantal. »Lachen Sie jetzt nicht, wenn ich rot wie ein Teenager werde. Oh Gott. Dieser Tag verspricht interessant zu werden.«
»Dieses Wochenende!«
»Entschuldigung. Natürlich dieses gesamte Wochenende«, verbesserte sie sich. »Das Wetter verspricht himmlisch zu werden. Da es in erster Linie Ihr Wochenende ist, sollten Sie mich überraschen, was wir gemeinsam daraus machen.«
Er schlenderte mit ihr durch die Residenz. Gemeinsam bestaunten sie den in voller Blüte stehenden riesigen Residenzgarten.
Nein. In die Innenstadt wollte die attraktive Frau nicht so gerne. Stattdessen besichtigten sie die Marienburg, um sich anschließend auf die große Terasse des Hotels zu setzen. Sie ließen ihre Blicke hinunter zum Main und auf die Stadt gleiten.
Und irgendwann, wie sollte es anders sein, dachte Chantal, brachte er das Gespräch auf sein Unternehmen.
»Ich bin tief beeindruckt«, sagte Harald einige Stunden später. »Wie ist es möglich, dass Sie in so kurzer Zeit so viel Wissen sammeln konnten. Sie kennen sogar meine wichtigsten Wettbewerber. Man könnte fast auf die dumme Idee kommen, einer Mata Hari gegenüber zu sitzen.«
Chantal versuchte, dankbar und gleichzeitig etwas verlegen zu lächeln.
»Hm. Mata Hari. Ich weiß jetzt nicht, ob ich mich geehrt fühlen soll.«
»Das dürfen Sie. Das dürfen Sie«, lachte der Grauhaarige.
»Wie auch immer«, fuhr Chantal fort. »Meine Freunde auf Zeit dürfen ruhig das Gefühl haben, dass ich sie respektiere, indem ich mich mit ihnen, ihrem Leben und ihrem Umfeld auseinandersetze. Es wäre doch schlimm, wenn ich mich mit dem Manager eines Mineralölkonzerns nur über Kleider oder Fußball unterhalte.«
»Oder mit dem Inhaber einer Geflügelschlachterei«, lachte Lambers.
Chantal verschränkte ihre schmalen Finger ineinander.
»Dazu würde es erst gar nicht kommen«, sagte sie mit plötzlich ernster Miene.
»Oh. Wie darf ich das verstehen?«
»Weil ich mit einem solchen Mann nicht so locker plaudern könnte. Mit Sicherheit würde ich mit ihm nicht ein Bett teilen wollen.«
Lambers rückte lachend seinen Sessel ein Stückchen näher.
»Holla. Ich bin jetzt mehr als erstaunt. Eine Frau mit Prinzipien?!«
Chantal legte ihre beiden Zeigefinger vor ihren Lippen, und senkte leicht den Kopf.
»Es wäre jetzt nicht schön gewesen, wenn Sie statt „Frau“ einen anderen Begriff gewählt hätten.«
Fast blitzartig legte der Mann seine rechte Hand sanft und beschwichtigend auf den Arm seiner attraktiven Begleiterin. Er blickte ihr dabei tief in die Augen. Chantal entnahm aus seinen Augen ein bittendes Entsetzen.
»Wenn ich so denken würde, säßen wir nicht beieinander. Bitte nenne mich Harald.«
Ein offenes Lächeln huschte über das Gesicht der Begleiterin.
»Einverstanden Harald. Der Kunde ist König.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:
»Darf ich zu diesem Thema abschließend bemerken, dass ich nur Männer begleite, die mir sympathisch sind. Meine Kunden haben ein Anrecht auf eine möglichst unbelastete und reine Seele. Nur dann kann ich ganz und gar Madame Chantal sein; eine offene, ehrliche und kompetente Begleiterin - und eventuell Liebesdienerin. Eventuell; das bedeutet, dass ich mir die Freiheit nehme, nur dann mit Männern das Bett zu teilen, die mir zumindest weitestgehend sympathisch sind. Klingt das verrückt?«
»Nein. Nein.« Harald drückte Chantal einen Kuss auf die Hand. »Das ist für mich eine Bestätigung, die richtige Wahl getroffen zu haben … seit langer, langer Zeit.«
Die routinierte Escort-Dame verstand es, das Gespräch sanft und glaubhaft in eine andere Bahn zu lenken. Während des erlesenen Abendessens, in einer verschwiegenen Ecke der weitläufigen Lokalitäten des Hotels, unterhielten sie sich fast ausschließlich über Musik; über Edward Grieg, über die zehn wichtigsten Stationen der Moldau von Smetana, über die vier Jahreszeiten von Vivaldi und viele andere Komponisten.
Und erst zur fortgeschrittener Stunde gingen sie in das große Doppelzimmer mit dem riesigen Bett.
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