Ein Status quo bei ihren Stammkunden konnte unter Umständen hilfreicher sein, als eine Wiederverheiratung mit ungeahnten Folgen. Deshalb erhielten einige Kunden dezente und kostenlose Eheberatungen; Vorschläge, die selbstverständlich ganz und gar nicht uneigennützig waren.
In den letzten Jahren gelang es ihr sogar einige Männer oder Frauen davor zu bewahren, einen gutbezahlten Job einfach hinzuwerfen. Treue, liebenswerte und spendable Kunden erhielten einen höchst außergewöhnlichen Service. Ferdinand, der kreative Privatdetektiv, bekam dann den Auftrag, das wirtschaftliche Umfeld des unschlüssigen Kunden oder der eingeschüchterten Klientin zu durchleuchten. In einigen Fällen hatte sie diesen armen Seelen zum Abschied ein Kuvert mit sensiblen Daten in die Hand gedrückt, und ihnen ins Ohr geflüstert: »Mach‘ was Gescheites daraus!« Tage oder Wochen später warfen sich die Dankbaren an ihren Busen. Sie bedankten sich fürstlich. Noch nie waren diese absolut nicht alltäglichen Vorgehensweisen ein Minusgeschäft gewesen.
Der Geschäftsführer der Escort Agentur akzeptierte, dass dessen Mitarbeiterinnen keine verbindlichen Termine für Chantal vereinbaren durften.
Sie, Chantal, bestand darauf, mit den Interessierten selbst ein Telefonat zu führen, und einen Termin zu vereinbaren – oder auch nicht.
Im Laufe der vielen Jahre hatte sie ein fast untrügerisches Gespür entwickelt, welches Wesen sich hinter einer Stimme am Telefon verbarg. Bereits der erste Satz war in den allermeisten Fällen ausschlaggebend gewesen, ein Treffen zu vereinbaren – oder auch nicht. Allein die Stimme, die Lautstärke, die erste Wortwahl projizierten ein Bild vor ihrem inneren Auge. Sie fühlte es förmlich, als stünde einer der vielen Fieslinge neben ihr; einer, der es liebte, seine Sekretärin in einer Pause auf den Schreibtisch zu pressen – und von hinten zu vögeln. Oder war es ein seelenloser Despot, der stolz darauf war, seine Untergebenen zu knechten. Vielleicht hatte er ihren Namen aufgeschnappt, und war felsenfest davon überzeugt, auch dieses rassige Weib in seine Sammlung einreihen zu können; gleichsam der Trophäensammlung eines Großwildjägers. Er hatte schließlich Geld; viel Geld. Und er war davon überzeugt, für Geld alles kaufen zu können – auch Seelen. Edelnutten hatten aus der Sicht von so manchen reichen Spinnern ohnehin keine Seele.
Ihr Repertoire war dann unerschöpflich. Niemals wäre sie verletzend gewesen – auch dann nicht, wenn eine Stimme in ihr schrie, diesen Mann wissen zu lassen, dass er ein Schwein sei. Mit flötender Stimme bat sie glaubhaft um Verständnis, in den nächsten Wochen keinen Termin unterbringen zu können. Gerne würde sie ihm jedoch die Telefonnummer einer Kollegin geben. Dass diese Typen eine Absage von einer Nutte bekamen, war Strafe genug.
Natürlich hatte es in der Vergangenheit viele andere Telefonate gegeben. Bereits nach ein paar Sekunden sprang der Funke über; knisterte oder vibrierte es. Dann freute sie sich auf dieses Treffen. Aber selbst auch dann wäre sie nie auf die Idee gekommen, einem kurzfristigen Date zuzustimmen. Auch sie konnte sich schließlich irren. Sie wollte und musste sich auf dieses Treffen vorbereiten. Und hierfür brauchte sie Informationen.
Vor wenigen Wochen hatte Chantal zufällig einem Gespräch zwischen Sven und dem Detektiv gelauscht.
»Ich bin immer wieder beeindruckt, was Madame Chantal alles über ihre Kunden in Erfahrung bringen will«, brummt Ferdinand, und Sven antwortete lachend:
»Vielleicht liebe ich sie gerade deshalb. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich an alle ihre Kunden und Liebhaber erinnern kann.«
Wenige Wochen zuvor hatte Chantal zum ersten Mal in ihrem Leben darüber nachgedacht, wie viele Männer sie in ihrem Leben glücklich machen durfte.
In ihren jungen und wilden Jahren sahen die Kerle sie eher als attraktives Lustobjekt. Nur am Anfang glaubten einige, sich kurz an ihrem schönen Körper abreagieren zu dürfen. Dann rächte sie sich auf ihre Weise. Zunächst fragte sie die Burschen, ob sie Männer seien; so richtige Männer.
Was blieb den armen Kerlen dann übrig, als dies unter Beweis zu stellen. Stunden später genoss sie es zu beobachten, wie die Ausgepumpten zu ihrem Fahrzeug schlurften, und mit zittrigen Fingern versuchten, den Schlüssel in das Wagenschloss zu bugsieren.
Waren es Hunderte? In den Anfangsjahren, in Freiburg, Baden-Baden, Stuttgart oder Frankfurt, waren es mit Sicherheit mehr als über tausend heißblütige Männer - pro Jahr. In den letzten Jahren „begleitete“ sie zwei bis vier Männer in der Woche. Das Schicksal wollte es, dass auch Frauen ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten.
Inzwischen war sie wohlhabend geworden; sehr wohlhabend sogar. Den größten Teil ihres Vermögens hatte sie jedoch nur indirekt mit ihrem Körper „erarbeitet“.
Chantal Mauriac wurde 1963 in einem kleinen Städtchen im Elsass geboren.
Ihr Vater, ein Weinbauer, starb früh, und ihre Mutter Jaqueline konnte das Weingut nicht mehr halten. Sie heiratete Hannes Vögele, den Inhaber einer weithin bekannten Gastwirtschaft in Freiburg.
Die quirlige, und bereits schon in jungen Jahren gutaussehende Tochter, besuchte das Gymnasium und schloss das Abitur mit der Note 1,2 ab. Mama Jaqueline schäumte vor Wut, als ihre intelligente Tochter unbedingt Sängerin werden wollte.
Stiefvater Hannes entpuppte sich jedoch als egoistischer Pragmatiker.
In seiner Gastwirtschaft wurden vornehmlich wertvolle Weine kredenzt. Seine attraktive Stieftochter sollte die Gäste bedienen, und sie zwischendurch mit lustigen Weinliedern unterhalten. Dafür griff er sogar tief in die Tasche.
Die heißblütige und extravertierte Chantal schlug ein wie eine Bombe. Seitdem strömten unzählige Gäste zur Weinwirtschaft am Schlehbusch.
Es blieb nicht aus, dass diese lebenslustige Schönheit umschwärmt wurde. Als ein verheirateter Gast aus Baden-Baden seine Stieftochter schwängerte, war das Wohlwollen des Stiefvaters allerdings jäh aufgebraucht. Mama Jaqueline gelang es mit allergrößter Mühe, ihren Mann umzustimmen, „das arme Mädchen“ nicht auf die Straße zu setzen.
Nach vielen Monaten der strengen Disharmonie entpuppte sich Opa Hannes sogar als der größte Fan des kleinen, schreienden Gerard.
Doch dann, ein Jahr später, ereignete sich dieses Unglück. Ohne jegliche Vorwarnung starb der kleine Schreihals.
Es folgten Monate der Hölle auf Erden. Hannes Vögele war der schlimmste Teufel in dieser Hölle.
Er steigerte sich in den Vorwurf hinein, dass dieser Schicksalsschlag eine Quittung für das Lotterleben seiner Stieftochter war. Gott habe sie dafür bestraft.
Mama Jaqueline, die einstmals wunderschöne Frau, verhüllte ihren Körper fortan in schwarzer Kleidung. Sie flüchtete in Gebete und Kirchenbesuche. Täglich wanderte sie zum Grab des kleinen Gerard. Niemals, auch in den vielen Jahren zuvor, hatte sie Chantal in die Arme genommen; niemals hatte sie offensichtlich darüber nachgedacht, wie es wohl in der Seele ihrer Tochter aussehen möge.
Dass ihre Mutter sie in dieser schlimmen Phase allein ließ, fraß sich tief in Chantals Seele; war unzweifelhaft ausschlaggebend für ihr weiteres Leben geworden.
Nach Wochen des Haderns, nach einer Phase der Entscheidung für oder gegen das Leben, entschied sich die damals Einundzwanzigjährige für das Vergessen und für das Leben. Dieses kleine Zimmerchen des kleinen Gerard, diese vielen liebgewordenen Utensilien und das Bewusstsein um das Grab des Kleinen, nur einen Kilometer vom Gasthaus und den angrenzenden Wohnräumen entfernt, waren unerträglich geworden.
In Baden-Baden schlug sich Chantal zunächst als attraktive Bedienung, Sängerin und Unterhalterin durchs Leben. Sie genoss es, wieder umschwärmt und geliebt zu werden. Das Leben musste weitergehen. Irgendwie. Viele Liebschaften, die atemlosen Fluchten glichen, gingen nahtlos in ein Leben als Hure über; in einem vornehmen Etablissement.
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