Deshalb, vor allem in den Nächten, haderte Chantal mit dem da oben. Sie führte viele Monologe mit ihm. Wofür hatte er sie bestraft? Sie suchte nach unendlich vielen Gründen. Sie weinte und schluchzte – bis irgendwann keine Tränen mehr kommen wollten.
Eines Tages besuchte sie Professor Lemberg in ihrem Appartement. Das war mehr als unüblich. Das hätte man ihm als kompromittierend auslegen können.
Und tatsächlich. Der Professor setzte sich zu Chantal auf die Couch – und griff unvermittelt nach ihren Händen. Hierbei blickte er in ihre Augen. Nein. Nein. Das waren keine lüsternen oder gierigen Augen. Vielmehr waren es bittende Augen.
»Ich habe mir inzwischen erzählen lassen, dass Sie gerne als „Madame Chantal“ angesprochen werden wollen. Also, Madame Chantal, ich habe eine Bitte an Sie.«
»Oh oh. Das scheint jetzt spannend zu werden«, lachte Chantal mit ihrer dunklen und warmen Stimme. »Ich bin ganz Ohr.«
»Ihnen ist doch inzwischen diese Sache mit Viola Straubinger zu Ohren gekommen?«
»Nicht nur das. Ich habe zuvor mit ihr viele Gespräche geführt.«
»Umso besser. Dann sind Sie ja voll im Thema.« Der Professor schnaufte hörbar tief durch, um leiser fortzufahren:
»Hatten Sie das Gefühl gehabt, dass diese Frau zu einer solchen Kurzschlusshandlung neigen könnte?«
»Achtzig Prozent aller Patientinnen in dieser schönen Klinik werden mit Sicherheit ein oder mehrere Male über einen solchen Schritt nachgedacht haben. Ich auch«, sagte Chantal, und versuchte schulterzuckend ein Lächeln aufzusetzen.
»Ein so hoher Prozentsatz?!« Professor Lemberg zog entsetzt seine Hände zurück, und starrte Chantal nachdenklich in die Augen.
»Mit Sicherheit könnten Sie auch ohne Hoden pinkeln. Niemand, na ja, bis auf wenige Damen, hätte eine Ahnung, dass Ihnen diese kleinen Dinger fehlen. Aber Sie wüssten es. Und das ist das Entscheidende. Mit Sicherheit sind sie jetzt hin und hergerissen zu sagen, dass man das nicht vergleichen kann.«
Der Professor lehnte sich zurück, verschränkte demonstrativ seine beiden Arme vor der Brust und prustete:
»Au weia. Diese Sätze muss ich mir für eine der nächsten Seminare merken. Ich sehe jetzt schon, wie einige meiner Kollegen eine Schnappatmung bekommen.«
»Sie werden blitzschnell sichergehen wollen, dass sie noch da sind«, gluckste Chantal.
Nachdem der Mediziner sich von seinem Lachanfall erholt hatte, griff er noch einmal nach Chantals Hand.
»Kommen wir zurück zu Viola Straubinger. Morgen darf sie wieder auf ihr Appartement. Könnten Sie sich ein wenig um sie kümmern? Von Frau zu Frau sozusagen. Damit würden Sie mir einen riesengroßen Gefallen tun.«
»Und mir quasi den Schwarzen Peter zu spielen? Und wer kümmert sich um meine schwarze Seele?«
Professor Lemberg erhob sich lachend.
»Der Teufel ist im Grunde genommen ein feiger Hund. Er sucht sich die Seelen immer nur einzeln. An zwei Seelen auf einmal traut er sich nicht ran.«
»Gut«, sagte Chantal. »Dann habe ich drei kleine Wünsche: Bei den Mahlzeiten sitzt Viola neben mir. In ihrem Zimmer wird ein Doppelbett aufgestellt. Und bitte keine weiteren Fragen hierzu.«
Der Professor verschränkte seine Hände, nickte kurz und verließ das Appartement.
Chantal ging auf die Terrasse. Sie genoss den Weitblick an diesem sonnigen Tag, und ließ ihre Gedanken schweifen.
Nach einer halben Stunde stand für sie fest: Dieser Professor war verdammt clever. Mit Sicherheit wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Seine drei letzten Sätze hatte er mit Bedacht gewählt. Höchstwahrscheinlich hatte er erkannt, dass auch sie in den letzten Tagen zunehmend in den Seilen hing. Ihm ging es nicht um diese blonde Viola allein. Und es ging ihm vor allem um den guten Ruf. Ein Suizid in dieser Nobelklinik war alles andere als eine gute Reklame.
Viola Straubinger wirkte um fünf oder gar zehn Jahre gealtert, als sie sich an den Mittagstisch setzte. An jedem runden Tisch saßen sechs Personen.
Wortlos legte Chantal eine Hand auf die von Viola; lange und beruhigend. Während des Frühstücks, wobei die Blondine noch nicht am Tisch saß, hatte sie mit ernster Miene höchst unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Frau künftig unter ihrem Schutz stehen würde. Sie wünsche sich keine blöden Fragen! Und auch keine dummen Blicke! Daraufhin entstand zunächst einmal atemlose Stille.
Während des Abendessens hatte sich die Stimmung am Tisch bereits gelockert. Einige machten sogar wieder Späße, als sei nichts gewesen. Sie hatten wohl nachgedacht. Sonja gab Chantal zur Begrüßung lächelnd einen Kuss auf die Wange.
Die dunkle Zeit nach dem abendlichen Beisammensein war für die meisten Frauen besonders schlimm. Vor allem in den langen Nächten sagte sich die Hölle an.
Chantal hörte das Schluchzen von Viola bereits durch die geschlossene Tür. Als diese nach langem Klopfen geöffnet wurde, schlenderte sie, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, an der Weinenden vorbei; bewaffnet mit zwei Flaschen Wein und zwei Gläsern.
Während sie Platz nahm, und zwei Gläser eingoss, sagte sie lachend:
»Sich allein besaufen macht auf die Dauer keinen Spaß.«
Viola schnappte sich unaufgefordert ein Glas und kicherte mit Tränen in den Augen:
»Als du zu uns gestoßen bist, habe ich sofort gesehen, dass du einen an der Waffel hast.«
Gegen Mitternacht wurde Viola immer lockerer. Die süffige Spätlese zeigte zunehmend ihre Wirkung.
»Ich werde diese lüsternen und starken Kerle vermissen«, gluckste die Blondine lachend und mit Tränen in den Augen.«
»Saublöde Einstellung«, sagte Chantal. »Denk‘ doch mal logisch! Wollten diese Lüstlinge deine Titten oder viel eher deine Muschi?«
»Schon. Schon«, schniefte Viola. »Aber zuerst haben sie auf meinen großen Ausschnitt gestarrt – und auf meinen Hintern.«
»Der Professor zaubert dir einen noch größeren Busen. Dass da Silikon drin ist, können die Kerle doch nicht riechen. Und mit dem Po kannst du weiterhin wackeln.«
»Aber sie wollen sich auch an meinen Titten ergötzen. Stattdessen glotzen sie auf die großen Narben. Und ich sehe, wie sich ihr Schniedelwutz verabschiedet.«
Der Blondine war es offensichtlich wichtig, sich diese Szene vorzustellen. Ihr um 45 Grad ausgestreckter Zeigefinger neigte sich in Zeitlupentempo nach unten; begleitet von einem langen und immer dumpfer werdendem „Tsssssss“.
Chantal drückte der Blondine lachend einen Kuss auf die vollen und leicht zitternden Lippen.
»Ach du liebes Bisschen. Du musst noch eine ganze Menge lernen.«
»Zum Schluss noch von dir?!«, ätzte die Blondine.
»Warum nicht?«, lächelte Chantal.
»Merke dir vor allem eines. Zu viel Licht kann tödlich sein. Spiele mit dem Licht, mit deinen Augen, deinen Lippen, deiner Zunge, deinem Atem, deinen Bewegungen. Du musst deinen ganzen Körper einsetzen. Du bist die Chefin von diesem herrlichen Spiel. Nicht die Kerle. Lass‘ sie das ruhig glauben. Die meisten von diesen Burschen denken in einer solchen Situation ohnehin mit dem Schwanz. Wesentlich ist, dass du sie dorthin führst, wohin du sie haben willst.«
»Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott.«, gluckste die Blondine. So wie du es ausdrückst, sehe ich dieses Spiel plastisch vor meinen Augen. Du hast es faustdick hinter den Ohren.«
»Wir sind ja noch eine ganze Weile hier. Wenn du diese schöne Klinik wieder verlassen musst, darfst du Männern wieder zeigen, wo es langgeht. Jetzt lasse dir zuerst einmal ein paar schöne Brüste drapieren, die aus deiner Sicht zu dir passen.«
Kopfschüttelnd blickte sie Viola in die Augen.
»Du bist doch eine clevere Frau. Was hindert dich daran, diesem Scheißladen den Rücken zu kehren. Suche dir einen anderen guten Job. Vielleicht in einer anderen Stadt, wo niemand deine Geschichte kennt. Fang‘ einfach von vorn an. Eine andere Stadt bedeutet auch andere Männer. Typen, die auf deine neuen Titten stieren, und geil auf deine Muschi sind, gibt es überall.«
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